Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
gut. Mein Geist stieg auf automatische Prognosen um und lieferte mir eine Reihe von Times-Überschriften, die ungefähr folgendermaßen lauteten:
    BRONX-ABGEORDNETER QUINN GREIFT VERZÖGERUNG BEI DER SLUMSANIERUNG AN
    BÜRGERMEISTER QUINN VERLANGT REFORM DES STÄDTISCHEN BODENRECHTS
    SENATOR QUINN ERKLÄRT KANDIDATUR UMS WEISSE HAUS
    QUINN FÜHRT NEUEN DEMOKRATEN ZU ERDRUTSCHSIEG
    PRÄSIDENT QUINNS ERSTE AMTSPERIODE: EINE EINSCHÄTZUNG
    Er redete weiter, lächelte die ganze Zeit, bewahrte Augenkontakt und hielt mich wie unter einem Bann. Er fragte mich über meine Arbeit aus, pumpte meine politischen Überzeugungen aus mir heraus, wiederholte seine eigenen. »Es heißt, Sie haben von allen Prognostikern im Nordosten den höchsten Zuverlässigkeitsindex… Ich wette, nicht einmal Sie haben die Ermordung Gottfrieds vorhergesehen… Man muß kein großer Prophet sein, um schon jetzt DiLaurenzio zu bedauern, den armen Trottel, der in solchen Zeiten die Stadt regieren will… Diese Stadt kann man nicht regieren, man muß mit ihr jonglieren… Finden Sie dieses scheinheilige Gesetz zur Sicherung der Wohnbezirke so abscheulich wie ich?… Was halten Sie von Con Edisons Fusionsprojektinder 23. Straße?… Sie hätten die Spendenlisten sehen sollen, die man in Gottfrieds Bürosafe gefunden hat…« Gewandt lotete er nach gemeinsamem Boden in unseren politischen Philosophien, obwohl er wissen mußte, daß ich die meisten seiner Überzeugungen teilte; denn wenn er schon so viel von mir wußte, wußte er auch, daß ich ein eingetragener Neuer Demokrat war, daß ich die Prognosen für das Manifest des Einundzwanzigsten Jahrhunderts und das begleitende Buch, Vorwärts zu einer wirklichen Humanität, erarbeitet hatte, daß ich über Prioritäten und Reformen und den ganzen albernen purtanischen Versuch, Moral gesetzlich zu fixieren, so dachte wie er. Je länger wir sprachen, desto stärker war ich von ihm angetan, um nicht zu sagen – fasziniert.
    Im stillen begann ich, verwirrende Vergleiche zwischen Quinn und einigen großen Politikern der Vergangenheit anzustellen – FDR, Rockefeller, Johnson, dem ersten Kennedy. Alle hatten sie jene schöne warme Kunst der Hintergründigkeit beherrscht: die Rituale politischer Eroberung voll auszuspielen und gleichzeitig ihre intelligenteren Opfer wissen zu lassen, daß niemand darauf hereinfällt, wir wissen doch alle, es ist nur ein Ritual, aber finden Sie nicht, daß ich es gut mache? Schon damals, schon bei jener ersten Begegnung im Jahre 1905, als er nicht mehr als ein kleiner Abgeordneter im Staatsparlament war, sah ich ihn in der politischen Geschichte Seite an Seite neben Roosevelt und JFK ziehen. Später machte ich großartigere Vergleiche, rückte Quinn neben Napoleon, Alexander den Großen, sogar Jesus, und wenn Sie darüber grinsen müssen, so erinnern Sie sich bitte, daß ich ein Meister der stochastischen Künste bin und daß meine visionäre Gabe schärfer ist als die Ihre.
    Quinn erwähnte damals mir gegenüber nichts von Bemühungen um höhere Ämter. Als wir zur Party zurückkehrten, sagte er nur: »Es ist noch zu früh für mich, einen Stab zu bilden. Aber wenn es soweit ist, werde ich Sie haben wollen. Haig wird Sie auf dem laufenden halten.«
    »Wie findest du ihn?« fragte mich Mardikian fünf Minuten später.
    »Er wird 1998 Bürgermeister von New York sein.«
    »Und danach?«
    »Wenn du mehr wissen willst, Mann, setz dich mit meinem Büro in Verbindung und laß dir einen Termin geben. Fünfzig die Stunde, und du kriegst die ganze Kristallkugelei.«
    Er kniff mich leicht in den Arm und schritt lachend von dannen.
    Zehn Minuten später rauchte ich eine Pfeife mit der goldhaarigen Schönen namens Autumn. Autumn Hawkes, die vielgepriesene neue Sopransängerin der Met. Schnell handelten wir ein Übereinkommen aus, nur mit den Augen, der stummen Sprache des Körpers, das den Rest der Nacht betraf. Sie sagte mir, sie wäre mit Victor Schott zur Party gekommen – einem großgewachsenen, hageren, preußischen Typ in düster-feierlicher, ordenstarrender Militäraufmachung –, der sie im Winter in Lulu dirigieren sollte; aber Schott hatte offensichtlich schon Vorkehrungen getroffen, mit dem Abgeordneten im Stadtparlament, Ronald Holbrecht, nach Hause zu gehen, und es Autumn überlassen, sich selbst zu helfen. Und Autumn half sich selbst. Ich täuschte mich jedoch nicht darüber, wen sie am liebsten für die Nacht gehabt hätte, denn ich sah, wie sie hungrig auf Paul Quinn am
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher