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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher
Autoren: Robert Silverberg
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anderen Ende des Raumes blickte und wie ihre Augen dabei glühten. Quinn war auf Geschäften hier: Keine Frau konnte sich ihn fangen. (Und auch kein Mann!) »Ich möchte wissen, ob er singt«, sagte sie versonnen.
    »Sie würden gern ein paar Duette mit ihm singen?«
    »Isolde zu seinem Tristan. Turandot zu seinem Calaf. Aida zu seinem Radames.«
    »Salome zu seinem Jokanaan?« schlug ich vor.
    »Machen Sie keine Witze.«
    »Sie bewundern seine politischen Ideen?«
    »Gut möglich, wenn ich sie kennen würde.«
    Ich sagte: »Er ist liberal und vernünftig.«
    »Dann bewundere ich seine politischen Ideen. Und ich finde ihn umwerfend maskulin und außerordentlich schön.«
    »Politiker auf dem Weg nach oben sollen schlechte Liebhaber sein.«
    Sie zuckte ihre schönen Schultern. »Gerüchte haben mich noch nie beeindruckt. Ich brauche einen Mann nur anzusehen – ein Blick genügt – und weiß sofort, ob er gut ist.«
    »Danke«, sagte ich.
    »Seien Sie nicht voreilig. Manchmal irre ich mich natürlich auch«, sagte sie giftig-süß. »Nicht immer, aber manchmal.«
    »Auch ich irre mich manchmal.«
    »In Frauen?«
    »In allem möglichen. Ich habe nämlich den zweiten Blick. Die Zukunft ist mir ein offenes Buch.«
    »Sie scheinen es ernst zu meinen.«
    »Ich meine es ernst. Davon lebe ich. Prognosen.«
    »Was sehen Sie in meiner Zukunft?« fragte sie, halb in gespielter Naivität, halb ernst.
    »In unmittelbarer Zukunft oder langfristig?«
    »Beides.«
    »Unmittelbar«, sagte ich, »stehen Ihnen ein wildes Nachtgelage und ein friedlicher Morgenspaziergang in leichtem Sprühregen bevor. Langfristig gesehen, Triumph über Triumph, Ruhm, eine Villa auf Mallorca, zwei Scheidungen, erst spät im Leben werden Sie glücklich sein.«
    »Sind Sie ein Zigeuner-Wahrsager?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein Techniker der Stochastik, Gnädigste.«
    Sie warf einen Blick auf Quinn hinüber. »Was sehen Sie für ihn voraus?«
    »Für ihn? Er wird eines Tages Präsident sein. Das ist das Allermindeste.«
     
7
    Als wir am nächsten Morgen Hand in Hand durch die nebeligen Wäldchen im Sicherheitskanal Sechs schlenderten, nieselte es. Ein billiger Triumph: Wie jedermann höre ich mir den Wetterbericht an. Autumn ging zu ihren Proben, der Sommer endete, Sundara kam erschöpft und glücklich aus Oregon zurück, neue Kunden zapften gegen üppige Honorare meinen Geist an, und das Leben ging weiter.
    Meine Begegnung mit Paul Quinn hatte kein unmittelbares Nachspiel, aber ich hatte auch keines erwartet. Das politische Leben New Yorks war gerade zu jener Zeit in wilder Bewegung. Nur wenige Wochen vor jener Party bei Sarkisian hatte sich auf einem Festessen der Liberalen Partei ein verärgerter Arbeitsloser Bürgermeister Gottfried genähert und, nachdem er die halbgegessene Grapefruit vom Teller des verblüfften Bürgermeisters genommen hatte, ein Gramm Ascenseur, den neuen französierten Sprengstoff, an deren Stelle geklatscht. Exeunt der Bürgermeister, der Attentäter, vier hohe lokale Funktionäre der Partei und ein Kellner, alle in einem einzigen glorreichen Knall. Dieses Ereignis erzeugte ein Machtvakuum in der Stadt; denn jedermann hatte angenommen, der gewaltige Bürgermeister würde für weitere vier oder fünf Amtsperioden gewählt werden – er war erst in seiner zweiten –, und plötzlich war der unbesiegbare Gottfried nicht mehr da, so als wäre eines Sonntagsmorgens, als der Kardinal gerade Brot und Wein austeilen will, Gott gestorben. Der neue Bürgermeister, der ehemalige Präsident des Stadtparlaments DiLaurenzio, war ein Niemand: Wie jeder echte Diktator hatte sich Gottfried mit schmeichlerischen, willfährigen Nullen umgeben. Alle waren sich einig, daß DiLaurenzio eine Interimsfigur war, die in den Bürgermeisterwahlen des Jahres ‘97 von jedem einigermaßen starken Kandidaten zur Seite geschoben werden könnte. Und Quinn wartete hinter den Kulissen.
    Den ganzen Herbst hindurch hörte ich nichts von ihm oder über ihn. Die Legislative tagte, und Quinn war an seinem Pult in Albany; in den Augen der Leute von New York City könnte man ebenso gut auf dem Mars sein. In der City tobte der übliche gespenstische Zirkus, nur noch entfesselter als sonst, jetzt, wo die überpotente Freudsche Kraft, die Bürgermeister Gottfried verkörpert hatte, der Städtische Allvater mit dunkler Braue und langer Nase, der Beschützer der Schwachen und Kastrierer der Unbotmäßigen, von der Bühne entfernt worden war. Die Miliz der 125.
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