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Der Seewolf

Der Seewolf

Titel: Der Seewolf
Autoren: Jack London
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angezündet. Mit dem linken Arm war er noch immer zu solchen Bewegungen fähig. Das feuchte Stroh hatte die ganze Zeit vor sich hin geschwelt, da es keine Luftzufuhr hatte.
    Als ich die Matratze herunterriss, ging sie sofort in Flammen auf.
    Ich schlug die brennenden Strohreste in der Koje aus, dann lief ich an Deck, um Luft zu schöpfen. Einige Eimer Wasser setzten dem Spuk ein Ende.
    Als sich der Rauch gelegt hatte, erlaubte ich Maud herunterzukommen. Wolf Larsen war bewusstlos, doch die frische Luft brachte ihn wieder zu sich. Er deutete an, dass er Papier und Bleistift wünschte.
    »Bitte unterbrechen Sie mich nicht«, schrieb er. »Ich lächle gerade. Wie Sie sehen, bin ich noch nicht ganz außer Gefecht gesetzt.«
    »Aber doch einigermaßen«, sagte ich. »Dem Himmel sei Dank!«
    »Ich bin völlig klar, Hump«, kritzelte er. »Niemals zuvor konnte ich so klar denken wie jetzt.«
    Es klang wie eine Botschaft aus der Gruft, denn der Körper dieses Mannes war zu seinem Grab geworden.

»Ich glaube, die linke Seite lässt mich jetzt auch im Stich«, schrieb Wolf Larsen am nächsten Morgen. »Die Taubheit nimmt zu, ich kann kaum noch die Hand bewegen. Sie müssen lauter sprechen. Bald sind die letzten Leinen durchtrennt.«
    »Haben Sie Schmerzen?« Ich musste meine Frage wiederholen, bevor er antwortete.
    »Nicht die ganze Zeit über.«
    Seine linke Hand mühte sich über das Papier und wir konnten sein Gekritzel nur noch mit großer Anstrengung entziffern.
    »Aber ich bin noch hier«, kritzelte die Hand noch mühsamer als zuvor. »Ich existiere noch.« Der Bleistift fiel ihm aus den Fingern und wir schoben ihn wieder dazwischen.
    »Wenn die Schmerzen nachlassen, empfinde ich Ruhe und Frieden. Niemals zuvor habe ich so klar gedacht. Ich kann über Leben und Tod nachdenken wie ein weiser Hindu.«
    »Und was ist mit der Unsterblichkeit?«, fragte Maud laut an seinem Ohr.
    Dreimal versuchte seine Hand zu schreiben, dreimal versagte sie. Als sie den Bleistift fallen ließ, versuchten wir vergeblich ihn zwischen seine Finger zu schieben. Sie konnten nichts mehr festhalten. Da schloss Maud ihre Finger um seine Hand mit dem Stift und er schrieb in riesigen Buchstaben unendlich langsam: »U-N-F-U-G.«
    Das war Wolf Larsens letztes Wort. Seine Hand und sein Arm entspannten sich, sein Körper zuckte noch einmal kaum merklich. Danach bewegte er sich nicht mehr.
    »Können Sie mich noch hören?«, schrie ich. Ich hatte seine Finger umfasst und wartete auf seinen bejahenden Händedruck. Er blieb aus.
    »Ich glaube, seine Lippen haben sich ein bisschen bewegt«, meinte Maud.
    Ich wiederholte die Frage, seine Lippen zuckten.
    »Was sollen wir ihm sagen?«, fragte ich. Sie zögerte.
    »Wir fragen ihn etwas, das er verneinen muss«, schlug ich vor.
    »Dann wissen wir mit Sicherheit, ob er uns versteht.«
    Maud legte ihren Finger auf seine Lippen und rief: »Haben Sie Hunger?« Die Lippen bewegten sich und sie sagte: »Ja.«
    »Möchten Sie Fleisch essen?«, fragte sie als Nächstes.
    »Nein«, verkündete sie.
    »Etwas Brühe?«
    »Ja, er möchte ein bisschen Fleischbrühe«, sagte sie ruhig und schaute mich an. »Solange sein Gehör funktioniert, können wir uns mit ihm verständigen. Danach ...« Ihre Lippen fingen an zu zittern und ihre Augen schwammen in Tränen. Sie schwankte mir entgegen und ich fing sie in meinen Armen auf.
    »Oh, Humphrey«, schluchzte sie, »wann wird das alles vorüber sein? Ich bin so müde, so furchtbar müde.« Sie vergrub ihren Kopf an meiner Schulter und weinte. Ihre schmalen Schultern zuckten und sie war wie eine Feder in meinen Armen.
    Wenn sie bloß nicht doch noch zusammenbricht, dachte ich. Ohne ihre Hilfe könnte ich unser Vorhaben nicht vollenden. Doch nachdem ich sie eine Weile gestreichelt und getröstet hatte, riss sie sich tapfer zusammen und war gleich wieder die alte, mutige Maud.
    »Ich sollte mich schämen«, meinte sie, »aber schließlich bin ich nur eine kleine Frau.«
    »Woher haben Sie diesen Ausdruck?«, fragte ich verblüfft, denn ich hatte sie nur in Gedanken, in meinen Träumen so genannt.
    »Vielleicht haben Sie im Schlaf gesprochen?« In ihren Augen tanzten winzige Lichter und ich wusste, dass mein Blick meine ganze, unendliche Liebe offenbarte. Ich beugte mich ihr entgegen und für einen Moment waren wir uns sehr nahe. Dann aber schüttelte sie energisch den Kopf, als ob sie einen Traum abwerfen wollte.
    Wir mussten unsere Arbeit fortsetzen, wenn wir jemals wieder nach Hause
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