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Der Seewolf

Der Seewolf

Titel: Der Seewolf
Autoren: Jack London
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besser an Lee auszuschütten. Mein Pech! Der Wind blies das Zeug zurück und leider nicht nur auf mich, sondern auch auf Wolf Larsen und Henderson.
    Larsens Faust traf mich so heftig, dass ich fast das Bewusstsein verlor. Alles verschwamm vor meinen Augen. Mir wurde speiübel. Ich konnte gerade noch rechtzeitig den Rand des Schiffes erreichen. Wolf Larsen folgte mir nicht. Er klopfte die Asche von seinen Kleidern und redete weiter mit Henderson. Johansen befahl ein paar Matrosen, das Deck zu säubern.
    Später am Morgen erlebte ich eine Überraschung ganz anderer Art. Ich betrat Wolf Larsens Kabine um aufzuräumen und das Bett zu machen. Am Kopfende befand sich ein Regal voller Bücher. Erstaunt las ich Namen wie Shakespeare, Tennyson und Poe. Es standen da auch wissenschaftliche Werke, Bücher über Astronomie und Physik, Literaturgeschichten, Grammatiken und Sprachlehren. Wie passten diese Bücher zu dem Mann, den ich kennen gelernt hatte?
    Als ich das Bett richtete, entdeckte ich zwischen den Laken eine vollständige Ausgabe von Brownings Gedichten. Die aufgeschlagene Seite enthielt »Auf einem Balkon« und einige Textstellen waren angestrichen. Dann fiel ein Bogen Papier zwischen den Seiten heraus, der über und über mit geometrischen Figuren und Berechnungen vollgekritzelt war.
    Offensichtlich handelte es sich bei diesem schrecklichen Mann um keinen unwissenden Tölpel, wie man aufgrund seiner brutalen Ausbrüche hätte vermuten können. Wolf Larsen war mir ein Rätsel. Mir fiel ein, dass auch seine Ausdrucksweise mir gegenüber hervorragend war, wenngleich er bei den Matrosen und Jägern die Umgangssprache benutzte.
    Meine Entdeckung hatte mich ermutigt, denn ich sprach ihn wegen meines gestohlenen Geldes an, als ich ihn kurze Zeit später am Heck antraf.
    »Man hat mich beraubt!«
    »Sir«, berichtigte er.
    »Man hat mich beraubt, Sir«, wiederholte ich. »Wie ist das passiert?«
    Da erzählte ich ihm die ganze Geschichte, auch, dass der Koch mich schlagen wollte.
    Wolf Larsen lächelte. »Köchleins Nebeneinnahmen«, vermutete er. »Meinen Sie nicht, dass Ihr jämmerliches Leben diesen Preis wert ist? Merken Sie sich diese Lektion und passen Sie auf Ihr Geld auf! Ich nehme an, bisher hat das ein Notar oder ein Verwalter für Sie gemacht?«
    Ich spürte den Hohn in seinen Worten, trotzdem forderte ich: »Wie bekomme ich es zurück?«
    »Das ist Ihre Sache. Jetzt müssen Sie auf sich selbst vertrauen. Ein Mann, der sein Geld herumliegen lässt, verdient es zu verlieren. Außerdem haben Sie gesündigt. Sie haben Köchlein in Versuchung geführt und er ist ihr erlegen. Sie haben seine unsterbliche Seele in Gefahr gebracht. Glauben Sie übrigens an die unsterbliche Seele?« Seine Augenlider hoben sich und ich glaubte, in die Tiefe seiner Seele zu blicken. Doch das war eine Illusion. Kein Mensch hat je bis in Wolf Larsens Seele gesehen. Es war eine einsame Seele, wie ich erfuhr, die sich niemals offenbarte, auch wenn es manchmal so schien.
    »Ich lese Unsterblichkeit in Ihren Augen«, antwortete ich.
    »Sie sehen etwas, das lebt, das aber nicht ewig weiterleben muss.« »Ich lese mehr als das«, behauptete ich kühn.
    »Dann lesen Sie Bewusstsein. Sie lesen das Bewusstsein zu leben, jetzt, aber nicht unendlich.«
    Wie klar seine Gedanken waren und wie klar er sie ausdrückte! Er drehte den Kopf und blickte über die bleierne See. Kälte trat in seine Augen und die Linie seines Mundes wurde streng.
    »Zu welchem Zweck?«, fragte er plötzlich. »Falls ich unsterblich bin - warum?«
    Ich zögerte. Wie konnte ich ihm meine Überzeugung erklären? »Was glauben Sie denn?«, entgegnete ich.
    »Ich glaube, dass das Leben ein wüstes Durcheinander ist«, antwortete er prompt. »Es ist etwas, das sich bewegt, aber schließlich damit aufhören wird. Die Großen fressen die Kleinen, damit sie sich weiter bewegen können. Die Starken fressen die Schwachen. Diejenigen, die Glück haben, fressen das meiste und bewegen sich am längsten. Das ist alles. Was sagen Sie dazu?« Er deutete auf einige Matrosen, die sich mittschiffs an Tauwerk zu schaffen machten. »Sie bewegen sich - das tun Quallen auch. Sie bewegen sich um zu essen und um sich weiter bewegen zu können. Sie leben für ihren Bauch und ihr Bauch lebt für sie. Es ist ein Kreislauf. Am Ende hören sie auf sich zu bewegen. Dann sind sie tot.«
    »Diese Männer haben Träume!«, rief ich dazwischen. »Sie ...«
    »Vom Futter«, sagte er knapp.
    »Und von mehr
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