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Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Der Seerosenteich: Roman (German Edition)

Titel: Der Seerosenteich: Roman (German Edition)
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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sich warf, daß sie fast jedesmal als Siegerin das Feld verließ. So ein Kräftemessen war Jon nicht geheuer. Er mochte sich nicht prügeln, war kein Freund von Fußballspielen und auch nicht von winterlichen Schneeballschlachten, bei denen er grundsätzlich eingeseift wurde.
    Lieber lief er mit ihr auf dem zugefrorenen Seerosenteich Schlittschuh, Runde um Runde, Drehung um Drehung, schneller und schneller, bis er glaubte, mit einem letzten Stoß abheben und fliegen zu können. Lieber lag er an trüben Tagen im Schulgebäude (in dem die Familie Rix auch wohnte) auf dem Dachboden und lauschte dem Regen, der auf die Ziegel und gegen die Fenster prasselte. Lieber saß er mit Isabelle in der Küche des Bauernhäuschens ihrer Eltern, über die Hausaufgaben gebeugt, während eine große, bauchige Kanne mit Kaffee, auf dem Kohleherd warm gehalten, in regelmäßigen Abständen ein gemütliches und beruhigendes Blubbern von sich gab. Jon war ein romantischer Junge.
    Und er war in Isabelle verschossen. Aber er traute sich nicht, es ihr zu sagen. Denn er konnte sich nicht vorstellen, daß so ein kluges, schönes, mutiges Mädchen, das alle so gern mochten, seine Gefühle erwidern könnte.
    Er sprang vom Gatter herunter und schlenderte langsam den Weg hinauf, der zum Dorf zurückführte. Im Vorbeigehen riß er einen Grashalm aus dem Boden, formte mit den Händen eine Höhle, legte den Halm zwischen die Seitenflächen seiner Daumen und blies kräftig hinein. Über die flache, von der Maisonne erleuchtete Landschaft tönte es laut und durchdringend, immer und immer wieder, wie der Ruf eines verirrten Tieres.
    Isabelle betrat das Haus, schlüpfte aus ihren Schuhen und stellte sie unter die Eichenholzgarderobe, neben die Gummistiefel ihres Vaters, die er nun schon so lange nicht mehr angezogen hatte. Ihre Mutter hatte sie gehört und kam die Treppe herunter. Sie trug auch keine Schuhe, sondern lief auf Strumpfsocken, wie man hier sagte.
    «Wo warst du nur wieder?» fragte sie ihre Tochter nervös. «Wie siehst du nur aus? Deine Hose. Hundertmal habe ich dir gesagt, daß Grasflecken nicht rausgehen ...»
    Sie stand dicht vor ihrer Tochter und strich ihr die Haare aus der Stirn.
    Isabelle setzte zu einer Erklärung an, aber ihre Mutter ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern zupfte an ihr herum. «Wo ist deine Haarspange?»
    Ehe Isabelle etwas antworten konnte, griff ihre Mutter zu der Messingschale, die in die Ablage der Garderobe eingelassen war, nahm ein Gummiband heraus, trat hinter ihre Tochter, raffte deren Haare mit der einen Hand zusammen, um dann mit der anderen das Band darüber zu streifen, so daß ein Pferdeschwanz entstand. «Nimm die Haare aus dem Gesicht ... wasch dir die Hände ... zieh deine Puschen an ... dann geh rauf ... dein Vater will dich sehen ... ach, Kind ... Doktor Eggers ist gleich da. Es geht Vater nicht gut.»
    Sie zog ein Taschentuch heraus, doch nicht, weil sie weinen mußte. Sie reichte es Isabelle, damit sie sich den Zucker aus den Mundwinkeln wischen konnte – Reste vom Guß der Rosinenschnecken, die Jon seiner Freundin von seinem Taschengeld spendiert hatte. Er kriegte fünf Mark jeden Monat. Isabelle bekam nichts von ihren Eltern. Ihre Mutter meinte, Taschengeld sei eine Erfindung von Städtern. Alles, was Kinder auf dem Land bräuchten, bekämen sie zu Hause. Alles eben nicht, fand Isabelle.
    Sie hatte schon früh ein gutes Gefühl für den Wert des Geldes entwickelt. Das verdankte sie ihrem Großvater. Er hatte die letzten Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im vergangenen Herbst bei ihnen gewohnt und seiner Enkelin Aufträge erteilt, für deren Erledigung er ihr Geld zusteckte. Heimlich, denn Isabelles Mutter wollte nicht, daß ihre Tochter für ein paar Groschen die Morgenzeitung oder Zigarren holte oder einen Brief wegbrachte.
    Am besten gefiel Isabelle dabei, daß sie ihrem Großvater abends vor dem Schlafengehen, während er, einen Zigarrenstummel im Mund, in der Küche noch die Todesanzeigen studierte, für fünfzig Pfennig das Bett anwärmen durfte. Dann kam er mit seinen Filzpantoffeln nach oben geschlurft, ging, während sie unter der Federdecke lag, an seinen Kleiderschrank, nahm eine Zigarrenspankiste heraus, öffnete sie, fingerte unter den Geldscheinen den Fünfziger heraus und warf ihn ihr in hohem Bogen zu. Sie fing die Münze auf, sprang aus dem Bett, gab ihm flüchtig einen Gutenachtkuß und verschwand wieder nach unten in ihr Zimmer, das neben der Stube lag.
    Bald schon kam
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