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Der Seelenfänger (German Edition)

Der Seelenfänger (German Edition)

Titel: Der Seelenfänger (German Edition)
Autoren: Chris Moriarty
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gehen, wo ihn der Spott der einheimischen Kinder verfolgte, oder darüber, dass er Sascha überhaupt besuchen kam.
    »Können wir reden?« Antonio wies mit dem Kinn auf den dunklen Treppenaufgang hinter ihm und bedeutete Sascha, dass ihr Gespräch keine Zeugen vertrug.
    »Ja …, klar.«
    Er folgte Antonio ins Treppenhaus und dann hinunter bis ins Erdgeschoss. Gemeinsam traten sie hinaus und standen etwas verlegen auf den Eingangsstufen. Sascha setzte sich schließlich auf die oberste Stufe. Antonio blieb stehen, als wolle er die ganze Angelegenheit möglichst rasch erledigen.
    »Ich bin vorbeigekommen, um zu sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist«, begann er.
    »Ja, so weit ist alles in Ordnung. Der Dibbuk ist weg. Und, ach ja, danke, dass du mich gerettet hast.«
    »Du hast mich doch zuerst gerettet«, sagte Antonio widerwillig. »War das eigentlich dein Ernst, als du ihm gesagt hast, er soll lieber dich nehmen?«
    »Ja, schon. Schließlich ist es ja mein Dibbuk. Oder war es, hoffentlich. Ich habe mich verantwortlich gefühlt.«
    Mit dieser Antwort schien Antonio nicht gerechnet zu haben.
    Er wandte sich ab und sagte eine Weile nichts.
    »Geht es dir gut?«, fragte Sascha schließlich.
    Antonio schaute ihn wieder an, mit der freundlichen Miene war es jetzt vorbei. »Was für eine Frage!«, stieß er wild hervor. »Mein Vater ist tot und ich habe nicht einmal …«
    Er machte ein paar Schritte hinunter auf den Bürgersteig.
    »Tut mir wirklich leid«, sagte Sascha hilflos.
    Antonio sah zu ihm hinauf, seine dunklen Augen brannten. »Ich weiß. Es ist ja nicht deine Schuld, dass Morgaunt dieses Monster gerufen hat. Und ich weiß, dass es der Dibbuk war, der meinen Vater umgebracht hat, und nicht du. Aber das heißt nicht, dass ich dein Gesicht sehen und an alles erinnert werden will.«
    Sascha wusste nicht, was er erwidern sollte.
    »Unter anderen Umständen hätten wir wahrscheinlich Freunde werden können«, meinte Antonio.
    »Ja.« Das war auch Saschas Meinung. Es stimmte, die beiden hätten Freunde werden können. Er war diese Gewissheit, die man manchmal in dem Augenblick hat, wo man jemanden das erste Mal sieht.
    Aber es sollte nicht sein. Die Erinnerung an Antonios Vater würde immer zwischen ihnen stehen, dies und die Erkenntnis, dass der Vater, hätte Sascha nur anders gehandelt, wahrscheinlich noch am Leben wäre.
    »Es tut mir leid«, beteuerte Sascha. »Wirklich so leid.«
    Doch Antonio ging schon fort, und Sascha wusste nicht, ob er die Worte überhaupt noch gehört hatte.
    Er seufzte und stieg mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Die Wohnung war noch so warm und gemütlich wie vorhin, aber nun fühlte er sich zu Hause plötzlich als Fremder. Er trat ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und hielt Ausschau nach Antonios schmaler Silhouette. Draußen war außer dem Straßenpflaster und dem Schein der Laternen nichts zu sehen. Sascha starrte eine Weile in die Dunkelheit, dann ließ er den Vorhang los und wandte sich ab.
    Zwei Stockwerke tiefer verbarg sich eine hagere Gestalt im Schatten. Sie starrte gierig hinauf in das warme Licht hinter den Fensterscheiben. Sie lauschte den Geräuschen aus der Mietskaserne, wo Menschen eng beieinanderlebten, und bemühte sich, bekannte Stimmen zu erkennen.
    Die Schattengestalt kannte die Stimmen, ihre zugehörigen Namen und Gesichter, ihre Ängste, Wünsche und Geheimnisse. Sie wusste alles, was man überhaupt von ihnen wissen konnte. Und sie liebte sie.
    Die Menschen aber liebten den Dieb.
    Wenige Schritte entfernt lag ein totes Pferd am Straßenrand. Am Nachmittag war es in den Sielen gestorben, der Kutscher hatte ihm das Geschirr abgenommen und den Rest für den Abdecker liegen lassen. Trotz der winterlich kalten Witterung saßen schon die Fliegen dicht an dicht auf dem Kadaver.
    Für einen Augenblick ließ sich der Dibbuk ablenken und horchte auf das Fliegengesumm. Mit blasser Hand gebot er den Fliegen, zu ihm zu kommen. Die Fliegen erhoben sich, formierten sich zu einem Schwarm und senkten sich wie ein Leichentuch auf den Dibbuk herab.
    Ein außenstehender Betrachter hätte geglaubt, hier stünde ein Junge ganz aus Kohlenstaub. Doch der Anblick von innen war ganz anders. Die Flügel der Abertausend Fliegen glitzerten im Licht der Straßenlaternen. Sie flimmerten und funkelten wie Sterne im schwärzesten Nachthimmel.
    Sie waren wunderschön und sie würden für ihn sprechen.
    Früher hatte ihm die Macht gefehlt, über die Fliegen zu gebieten, jetzt besaß er
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