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Der Schwur

Der Schwur

Titel: Der Schwur
Autoren: Astrid Vollenbruch
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Meldungen und die Suchanzeigen durch; nirgends wurde ein graues Pferd erwähnt.
    Über die Spiegelung dachte sie nicht weiter nach. Es musste eine Täuschung gewesen sein, irgendeine Lichtbrechung im Glas der Terrassentür. Doch in der Nacht träumte sie ein wildes Durcheinander, aus dem sie schwitzend aufwachte, und während alle anderen Bilder rasch verblassten, blieb eins deutlich und klar: das Bild eines wilden, stolzen Pferdes, das sich hoch aufbäumte und dann in einem Schleier aus Licht verschwand.
    Samstags frühstückte jeder in der Familie dann, wann es ihm passte. Als Sonja recht früh ins Esszimmer kam, saß ihr älterer Bruder Philipp am Tisch, hatte den Stuhl weit zurückgekippt und las die Zeitung, die er über den ganzen Tisch verteilt hatte. Vor ihm stand ein großer Becher Kaffee, das war sein gesamtes Frühstück.
    Philipp war schon neunzehn und arbeitete als Automechaniker. Von allen ihren Geschwistern mochte Sonja ihn am liebsten. Er war schmal und dunkelhaarig wie sie und die Mutter, während der Vater, Corinna und Paul kräftig und blond waren. Und aus den Erzählungen anderer Mädchen in der Schule wusste Sonja, dass sie mit ihrem älteren Bruder echtes Glück gehabt hatte. Er war immer nett und hilfsbereit, verhöhnte sie nicht wegen ihrer Pferdeverrücktheit und brachte ihr manchmal sogar Pferdebücher mit, und er lachte über dieselben Dinge wie sie. Deshalb nahm sie es ihm auch nicht übel, dass er sie mit den Worten »Morgen, Kröte« begrüßte. Das gehörte einfach dazu.
    »Morgen. Ist noch keiner wach?«
    »Corinna schläft, Paul bastelt irgendwas Furchtbares ausStreichhölzern und Sekundenkleber, und Mama und Papa haben einen Notfall in der Klinik. Unter der Zeitung ist Brot und im Kühlschrank ist Wurst.«
    »Ich hab keinen Hunger. Ich will gleich zum Waldhof.«
    Er runzelte die Stirn, schien einen Moment nachzudenken und fragte: »Reiten?«
    Sie zögerte. Wenn sie einem Menschen auf der Welt von Micky, Bjarni und dem grauen Pferd erzählen konnte, dann Philipp. Aber vielleicht würde er ihr ebenso wie die Mutter verbieten, allein in den Wald zu gehen.
    »Hm – ja. Das Übliche.«
    »Aha.«
    Das klang ein bisschen merkwürdig, aber dann sagte Philipp harmlos: »In der Küche ist noch altes Brot, das kannst du sicher für die Ponys mitnehmen.«
    Das war eine gute Idee – damit konnte sie den Grauen sicher anlocken. »Ja, das mache ich.« Sie ging zur Küche und er rief ihr nach: »He, Sonja!«
    Nicht »He, Kröte!«. Sie drehte sich um. »Ja?«
    »Mach keinen Blödsinn, okay?«
    Was sollte das nun heißen? Sie runzelte die Stirn. »Wieso? Was ist denn?«
    »Ach, nichts.« Er verschwand wieder hinter der Zeitung.
    Sie wartete noch einen Moment, aber offenbar war die Unterhaltung beendet. Schließlich zuckte sie die Achseln, ging in die Küche und packte ein paar Scheiben hartes Brot in eine Tüte.
    Dann verließ sie das Haus.
    Der Wind war deutlich kälter als am vergangenen Tag. Der Himmel war grau und es sah nach Regen aus. Überall verloren die Bäume schon ihr Laub. Offenbar hatte Sonja wirklich die letzte Chance verpasst, ins Schwimmbad zugehen. Aber das war ihr jetzt egal. Wichtig war nur das graue Pferd.
    Sie holte ihr Rad aus der Garage und fuhr los.
    Es war ganz still im Wald. Blätter fielen, der Wind raschelte in den Zweigen und im Laub, und hier und da rief noch ein Vogel, aber diese kleinen Geräusche vertieften nur Sonjas Gefühl, ganz allein zu sein. Sie hatte zuerst von ihrem Taschengeld ein paar Möhren gekauft und war dann auf einem anderen Weg direkt zum Waldhof gefahren, obwohl die Leere dort ihr unheimlich war und sie an Micky und Bjarni erinnerte. Sie wollte nicht glauben, dass die beiden wirklich beim Schlachter gelandet waren. Fast hätte sie Philipp heute Morgen gefragt, wo sie so etwas erfahren konnte. Aber dann war ihr klar geworden, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte. Vielleicht hatte Frickel die beiden ja nur verkauft, und sie kamen jetzt auf einen richtigen Ponyhof, mit anderen Pferden und besserem Gras. Solange sie nichts Genaues wusste, konnte sie immer noch träumen, auch wenn Micky für sie verloren war.
    Und das graue Pferd war verletzt. Sie hatte gesehen, wie es humpelte. Vielleicht hatte es sich einen Stein eingetreten. Sonja wusste, dass solche kleinen Verletzungen schlimme Folgen haben konnten, wenn man sie nicht schnell behandelte.
    Sie stellte ihr Fahrrad auf dem Hof ab, holte Bjarnis altes Halfter aus dem leeren Stall und machte
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