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Der Schwur

Der Schwur

Titel: Der Schwur
Autoren: Astrid Vollenbruch
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sich auf den Weg um das Haus herum zum Waldrand. Schon früher hatte sie das graue, windschiefe Haus nicht gemocht, und jetzt, da es leer stand, schien es ihr geradezu feindselig zu sein. Als ob es gar keine Menschen mehr in seiner Nähe haben wollte. Wie hatte Frickel hier nur allein leben können? Vorallem nachts gruselte man sich hier doch sicher zu Tode ...
    Heute war das Gras nass von der Kälte. Graue Wolken hingen tief über dem Wald; die ganze Welt war grau und trostlos. Sonja war froh, dass sie ihre Reitstiefel angezogen hatte und deshalb problemlos durch Matsch und Pfützen stapfen konnte. Am Waldrand suchte sie nach Hufspuren. Das graue Pferd war sicher schon kilometerweit entfernt, aber irgendwo musste sie ja mit der Suche anfangen.
    Schon nach ein paar Minuten fand sie den ersten Abdruck. Er war rund und ganz flach, nur der Strahl des Hufs hatte ein kleines V hinterlassen. Trug dieses Pferd keine Hufeisen? Oder – Sonjas Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Oder war es vielleicht doch Micky oder Bjarni gewesen? Aber sie war sicher, dass sie das verletzte graue Pferd noch nie im Leben gesehen hatte. Und die seltsame Spiegelung auch nicht.
    »Denk nach«, sagte sie sich schließlich streng. »Micky und Bjarni waren beide nicht beschlagen und sind hier überall herumgelaufen. Das ist vielleicht nur ein alter Abdruck.«
    Für einen Moment kam die Erinnerung hoch: Sie und Micky, wie sie gemütlich einen Waldweg entlangzockelten – die Feenkönigin und ihr Araberhengst im traumhaften Galopp ... Nein! Nicht daran denken! Sie presste die Lippen zusammen und konzentrierte sich verbissen wieder auf die Spuren. Aber sosehr sie auch suchte, sie fand keine Spur von beschlagenen Hufen. Entweder war das graue Pferd nie hier gewesen, oder es war eben nicht beschlagen.
    So folgte sie den flachen, runden Abdrücken. Einfach war es nicht, schließlich war sie weder Pfadfinderin noch Indianerin, und der Waldboden war gestern noch nicht matschig gewesen, sondern hart und trocken. Und das Laub,das seit gestern von den Bäumen gefallen war, machte es nicht leichter. Trotzdem gelang es ihr, die Spur etwa hundert Meter weit durch den Laubwald zu verfolgen, bis sie am Rande des Tannenwaldes endete. Auf dem weichen, mattenartigen Boden unter den Tannen war nichts mehr zu erkennen.
    Ratlos blieb Sonja stehen. Wohin war das Pferd gelaufen? Links, rechts, geradeaus? Der Wald war so groß, es konnte überall sein. Angeblich gab es sogar Wildschweine hier, eine ganze Rotte. Wenn die sich schon so gut verstecken konnte, dass niemand außer den Förstern sie je sah, wieviel einfacher war es dann für ein einzelnes graues Pferd, sich zu verstecken?
    »Quatsch«, dachte sie. »Vor mir hat es sich ja auch nicht versteckt. Es wollte bloß nicht eingefangen werden. Es ist scheu, aber kein wildes Tier wie ein Wildschwein oder Reh.«
    Zum ersten Mal an diesem Tag dachte sie an Melanie. Es wäre so viel schöner, mit ihr zusammen auf die Suche nach dem Pferd zu gehen. Sie würden einfach Ronja Räubertochter und Birk Borkassohn spielen, die sich an die Wildpferde heranschlichen. Schließlich hatten sie das auch oft gespielt, wenn sie Micky und Bjarni von der Weide geholt hatten, um auszureiten ...
    Aber Melanie war ja jetzt mit Nele und Annika befreundet. Und Sonja wollte eher für den Rest ihres Lebens allein durch den Wald irren, als Melanie nachzulaufen.
    Aber wo sollte sie jetzt suchen?
    Irgendwo im Wald bellte ein Hund. Es klang schrill und hysterisch und für einen Moment verstummten die Vögel. Dann zwitscherten sie weiter. Sonja folgte einer Schneise durch den Tannenwald und versuchte, nicht an die Wildschweine zu denken, die sich hier vielleicht irgendwo versteckten.
    Plötzlich hörte sie raschen, dumpfen Hufschlag auf dem Waldboden und blieb wie angewurzelt stehen, während sie herauszufinden versuchte, woher das Geräusch kam. Es war hinter ihr – und schon ganz nahe. Hastig drehte sie sich um. Keine zehn Meter von ihr entfernt trat das graue Pferd zwischen den dunklen Tannen hervor. Als es sie bemerkte, hielt es jäh an, hob den Kopf und starrte zu ihr hin.
    Es war hässlich. Das hatte sie vorher schon gesehen. Das Fell war struppig und ungepflegt und sah aus, als hätte sich das Tier im Dreck gewälzt. Der zottige Behang an den Fesseln war zu einer matschigen Masse verklebt. Von Schweif und Mähne waren nur noch ein paar Strähnen übrig. Das war alles nicht so schlimm und lag wohl nur an mangelnder Pflege. Schlimmer waren die
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