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Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition)
Autoren: Lisa Ballantyne
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erschien ihm bedrückend, und er hoffte, dass der Junge nicht angeklagt würde und dass die gerichtsmedizinischen Beweise ihn entlasteten. Das Rechtssystem war für Erwachsene schon streng genug, geschweige denn für Kinder. Er musste jetzt allein sein – brauchte Zeit zum Nachdenken – und fühlte Erleichterung darüber, dass seine letzte Freundin vor zwei Monaten aus seiner Wohnung ausgezogen war.
    Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und trank ein paar Schlucke, während er seine Post öffnete. Im Stapel ganz unten lag ein Brief in einem blassblauen Kuvert, auf das die Adresse mit Tinte per Hand geschrieben war. Der Brief war vom Regen nass geworden, und Daniels Name und Adresse waren zum Teil verwischt, aber er erkannte die Handschrift.
    Er nahm einen kräftigen Zug von dem Bier, ehe er seinen kleinen Finger unter die Lasche des Umschlags schob und ihn aufriss.
    Liebster Danny,
    dieser Brief fällt mir schwer.
    Es ist mir nicht gut gegangen, und nun weiß ich, dass ich nicht viel länger zu leben habe. Ich bin nicht sicher, ob ich später noch die Kraft haben werde, deshalb will ich Dir jetzt schreiben. Ich habe die Schwester gebeten, ihn in die Post zu geben, wenn meine Zeit gekommen ist. Ich kann nicht sagen, dass ich dem letzten Wegstück mit Freude entgegensehe, aber ich fürchte mich auch nicht vor dem Sterben. Ich möchte nicht, dass Du Dir Sorgen machst.
    Ich wünschte, ich könnte Dich noch ein einziges Mal sehen, mehr nicht. Ich wünschte, Du wärst bei mir. Ich fühle mich weit weg von zu Hause und weit weg von Dir.
    So viele Verfehlungen, die ich bereue, und mein Gott, Liebling, Du bist eine von ihnen – wenn nicht meine größte. Ich wünschte, ich hätte mehr für Dich getan; ich wünsche, ich hätte härter gekämpft.
    Ich habe es Dir oft genug im Laufe der Jahre gesagt, aber Du musst wissen, dass ich nie etwas anderes gewollt habe, als Dich zu beschützen. Ich wollte Dich frei und glücklich und stark, und weißt Du was? – Ich denke, Du bist es.
    Obwohl ich weiß, dass es falsch war, was ich getan habe, denke ich jetzt an Dich, wie Du in London arbeitest, und das verschafft mir einen merkwürdigen Frieden. Ich vermisse Dich, aber das ist mein Egoismus. In meinem Herzen weiß ich, dass Du Großartiges leistest. Ich könnte vor Stolz platzen darüber, dass Du Rechtsanwalt geworden bist, aber ich bin keineswegs überrascht.
    Ich habe Dir die Farm hinterlassen, so bescheiden sie ist. Du könntest Dir das alte Haus wahrscheinlich mit einem Wochenlohn kaufen, aber vielleicht war es Dir eine Zeit lang ein Zuhause. Wenigstens wünsche ich mir das.
    Ich habe immer gewusst, dass Du Erfolg haben würdest. Ich hoffe nur, dass Du auch glücklich bist. Glück ist schwerer zu erreichen. Ich weiß, dass Du es wahrscheinlich noch immer nicht verstehst, aber Dein Glück war alles, was ich mir je gewünscht habe. Ich liebe Dich. Du bist mein Sohn, ob Dir das gefällt oder nicht. Versuche, mich nicht zu hassen für das, was ich getan habe. Sprich mich davon frei, und ich werde in Frieden ruhen.
    Alles Liebe,
    Mum
    Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Er trank sein Bier aus und stand einen Moment da, den Handrücken gegen seinen Mund gepresst. Seine Finger zitterten.

2
    »Er büxt gerne aus«, sagte die Sozialarbeiterin zu Minnie.
    Daniel stand in Minnies Küche neben seiner Reisetasche, die alles enthielt, was er besaß. In ihrer Küche roch es seltsam: nach Tieren, Obst und verbranntem Holz. Das Haus war eng und dunkel, und Daniel mochte nicht bleiben.
    Minnie sah ihn an, die Hände in die Hüften gestemmt. Da niel merkte sofort, dass sie freundlich war. Ihre Wangen wa ren rot und ihre Augen in ständiger Bewegung. Sie trug einen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, Männerstiefel und eine lange graue Strickjacke, die sie immer wieder enger um sich zog. Sie hatte mächtige Brüste und einen dicken Bauch, und auf ihrem Kopf türmten sich viele lockige graue Haare.
    »Büxt bei jeder Gelegenheit aus, die sich ihm bietet«, sagte die Sozialarbeiterin mit müder Stimme zu Minnie, und dann lauter zu Daniel: »Jetzt gibt’s aber nichts mehr, wohin du aus büxen kannst, he, Kleiner? Deiner Mum geht’s schlecht, stimmt’s?«
    Tricia streckte die Hand aus, um Daniels Schulter zu drücken. Er krümmte sich von ihr weg und setzte sich an den Küchentisch.
    Minnies Schäferhund Blitz begann, ihm die Fingerknöchel zu lecken. Die Sozialarbeiterin flüsterte Minnie
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