Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schuldige: Roman (German Edition)

Der Schuldige: Roman (German Edition)

Titel: Der Schuldige: Roman (German Edition)
Autoren: Lisa Ballantyne
Vom Netzwerk:
kommen?«, fragte Sergeant Turner und beugte sich nach vorn.
    Daniel roch den abgestandenen Kaffee in dessen Atem.
    »Könnte es Blut von gestern gewesen sein?«
    »Wir wissen nicht, ob es sich um Blut auf seinen Schuhen handelt, Sergeant. Könnten Sie vielleicht Ihre Frage anders formulieren?«, sagte Daniel und zog dem Polizeibeamten gegenüber eine Augenbraue in die Höhe. Ihm war klar, dass sie versuchen würden, dem Jungen auf diese Weise eine Falle zu stellen.
    Ungehalten fragte Turner: »Waren es dieselben Schuhe, die du am Sonntag getragen hast, Sebastian?«
    »Vielleicht. Ich könnte sie wieder angezogen haben. Ich erinnere mich nicht. Ich habe viele Schuhe. Ich vermute, wir müssen das einfach abwarten.«
    Daniel warf Sebastian einen flüchtigen Blick zu und versuchte, sich zu erinnern, wie er mit elf gewesen war. Er erinnerte sich, dass er Hemmungen hatte, Erwachsenen in die Augen zu sehen. Er erinnerte sich an Schmerzen von Brennnesseln und an das Gefühl, schlecht angezogen zu sein. Er erinnerte sich an Wutausbrüche. Aber Sebastian war selbstsicher und redegewandt. Ein Funke in den Augen des Jungen ließ ahnen, dass er Spaß daran hatte, vernommen zu werden, trotz der Schroffheit des Kriminalbeamten.
    »Ja, das werden wir. Wir werden bald herausfinden, was das für Flecken auf deinen Schuhen sind, und falls es Blut ist, wessen Blut genau es ist.«
    »Haben Sie Ben etwas von seinem Blut abgenommen?«
    Der Name des toten Jungen klang so schlicht, so weihevoll in dem fensterlosen Raum, wie eine vergängliche Seifenblase, die ölig und bunt vor allen in der Luft schwebte. Daniel hielt den Atem an, aber die Seifenblase platzte trotzdem.
    »Wir werden sehr bald wissen, ob etwas von seinem Blut an deinen Schuhen klebt«, flüsterte Turner.
    »Wenn man tot ist«, fragte Sebastian mit klarer, spöttisch klingender Stimme, »fließt dann bei einem das Blut immer weiter? Ist es noch immer flüssig? Ich dachte, es wird vielleicht fest oder so.«
    Daniel fühlte, wie sich die Haare an seinen Armen aufstellten. Er sah, dass sich die Augen der Polizeibeamten angesichts der makabren Wendung des Gesprächs verengten. Daniel spürte, was sie dachten, aber er glaubte trotzdem an den Jungen. Er erinnerte sich, wie er als Kind von Erwachsenen beurteilt worden war und wie ungerecht diese Urteile gewesen waren. Sebastian war zweifellos klug, und irgendwie verstand Daniel die kuriose Verfassung des Jungen.
    Es war weit nach zehn, als die Vernehmung zu Ende ging. Daniel fühlte sich erschöpft, als er zusah, wie Sebastian in seiner Zelle zu Bett gebracht wurde. Charlotte beugte sich über den Jungen und streichelte ihm das Haar.
    »Ich möchte nicht hier schlafen«, sagte Sebastian und wandte sich zu Daniel um. »Können Sie nicht erreichen, dass sie mich nach Hause gehen lassen?«
    »Es ist schon okay, Seb«, versuchte Daniel, ihn zu beruhigen. »Du bist wirklich sehr tapfer. Sie müssen halt gleich morgen früh wieder mit den Fragen beginnen. Hier zu schlafen, ist genauso angenehm. Zumindest bist du sicher aufgehoben.«
    Sebastian blickte auf und lächelte. »Gehen Sie jetzt zur Leichenschau?«, fragte er.
    Daniel schüttelte rasch den Kopf. Er hoffte, der Polizeibeamte in der Nähe der Zellen hatte nicht mitgehört. Er rief sich in Erinnerung, dass Kinder die Welt anders als Erwachsene betrachten. Selbst die älteren Jugendlichen, die er verteidigt hatte, waren in ihren Reden impulsiv gewesen, und Daniel hatte ihnen raten müssen, nachzudenken, ehe sie redeten oder handelten. Er zog sein Jackett an und fröstelte unter dessen noch immer feuchter Hülle. Kurz und knapp verabschiedete er sich von Charlotte und Sebastian und sagte, dass er sie am Morgen wiedersähe.
    Als Daniel aus der U-Bahn-Station Mile Ende kam, war es nach halb zwölf, und der Sommerhimmel war marineblau. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war noch immer elektrisch geladen.
    Er holte tief Atem und ging los, die Krawatte in der Brusttasche, die Hemdärmel hochgekrempelt und das Jackett über eine Schulter gehängt. Normalerweise würde er den Bus nach Hause nehmen, in den 339er steigen, wenn er ihn gerade erwischte, aber heute Abend lief er einfach geradeaus die Grove Road entlang, vorbei an dem altmodischen Friseursalon und den Imbissbuden, der Baptistenkirche und den Kneipen, die er nie betrat, und den modernen Mietshäusern, die von der Straße etwas Abstand hielten. Als er vor sich den Victoria Park erblickte, war er fast zu Hause.
    Der Tag
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher