Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
Vom Netzwerk:
diesem aussichtslosen Unterfangen wohl zu Grunde gingen.
    Neben ihm spielte Chioke mit den Steinchen auf dem Fußweg eines seiner mysteriösen Zahlenspiele. Ständig baute er Haufen auf, zerteilte sie wieder und bildete neue. Seit ihrem Wiedersehen war Chioke so entspannt und unbekümmert wie noch nie. Manchmal hatte Yoba fast den Eindruck, sein Bruder sehe ihn wirklich an und nicht nur durch ihn hindurch. Grübelnd sah er ihm beim Spielen zu. Chi-Chi schien mit sich und der Welt auf eine beneidenswerte Art im Reinen zu sein.Wahrscheinlich machte er sich nie Gedanken über die Zukunft und die Vergangenheit interessierte ihn auch nicht. Er lebte immer im Hier und Jetzt.
    Mehr als alles andere schmerzte Yoba das Schweigen seines Bruders. Manchmal hatte es ihn sogar schon richtig wütend gemacht. Ohne zu zögern, hätte er seine rechte Hand geopfert, nur um einen Tag mit Chioke reden zu können. Ganz normal. Er hätte ihm so viel zu sagen! Aber so lebten sie in verschiedenen Welten. Als würde sie eine unsichtbare Mauer voneinander trennen. Im Grunde wusste er nicht einmal, ob sich Chioke überhaupt noch an ihre Mutter und ihr Dorf erinnern konnte. Oder an die Palmwein-Fahne seines Vaters und die ständigen Prügel.
    Yoba kaute an dem Bleistiftstummel. Eine Ratte huschte durch die Gasse. Obwohl es noch nicht sehr spät war, waren nur wenige Einwohner unterwegs. Sie schenkten den beiden abgerissenen Jungen unter der Laterne keine Beachtung. Bis zum Ablegen des Bootes blieb noch reichlich Zeit, aber trotzdem bekam Yoba seine Nervosität kaum unter Kontrolle. Er war so kurz vor dem Ziel seiner Träume. Und wenn er erst einmal in Europa war und seinen Onkel gefunden hatte, würde er Anthony einen Brief schreiben. Er kannte zwar nicht die genaue Adresse, aber den alten Parkplatzwächter kannte in dem Viertel jeder. Dann würde er sich das restliche Geld schicken lassen und Adaeke mit dem Flugzeug nachholen. Das hatte er ihr versprochen und er hielt seine Versprechen. Darauf war Yoba stets stolz gewesen. Er wusste nicht, wie teuer europäische Häuser waren, aber vielleicht würde er eins für Adaeke, Chi-Chi und sich kaufen. Dort könnte sein Bruder dann in Ruhe gesund werden.
    Versonnen zeichnete Yoba ein Häuschen auf das weiße Papier. Dann begann er zu schreiben. Er schrieb, bis ihm die Finger wehtaten, und hätte ihn Chioke nicht irgendwann aus Langeweile am T-Shirt gezupft, dann hätte er vielleicht sogar das Boot ins Land seiner Träume verpasst. So aber kamen Chioke und er rechtzeitig zu der verlassenen Pumpstation zurück. Babatunde, Maurice und Sunday warteten bereits. Sie waren ebenfalls sehr nervös. Die Angst vor dem bevorstehenden Abenteuer war ihnen deutlich anzumerken.
    »Wartet kurz, bin gleich wieder da!«, bat Yoba und schlüpfte in die Ruine.
    Er hatte sich daran erinnert, unter dem Hausmüll eine Rolle mit einem Rest Plastikfolie gesehen zu haben. Die holte er sich nun und wickelte sein Tagebuch sorgfältig darin ein. Als er mit dem Ergebnis zufrieden war, stopfte Yoba das wasserdicht verpackte Büchlein in seine Unterhose und grinste von einem Ohr zum anderen. »Jetzt bin ich so weit. Alle Mann an Bord!«

41.
    Der Treffpunkt war eine unbeleuchtete Kreuzung unweit des Hafens. Als sie um Punkt Mitternacht erschienen, waren sie längst nicht die Ersten. Im Licht des Vollmonds konnte Yoba rund ein Dutzend schemenhafte Gestalten erkennen. Sie kauerten wie Phantome in den Büschen entlang der Straße. Nicht ein Laut war zu hören, nur das Zirpen der Grillen durchbrach die gespannte Stille. Yoba kaute unruhig an seinen Fingernägeln. Selbst auf seinen Bruder übertrug sich die in der Luftliegende Spannung. Chioke tastete im Mondlicht nach seiner Hand und drückte sie. Yoba konnte deutlich spüren, dass er zitterte.
    »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Wir schaffen das. Du musst jetzt nur ganz tapfer sein, hörst du?«
    Yoba konnte selbst vor Angst kaum atmen. Babatunde, Sunday und Maurice versuchten ihre Furcht zu überspielen, indem sie leise Witze rissen. Yoba war viel zu aufgewühlt, um herumzualbern, aber er war dankbar für die Ablenkung. Diese Warterei machte ihn ganz krank.
    Dann tauchte endlich ein Pick-up mit abgeblendeten Scheinwerfern auf. Zusammen mit den anderen dunklen Gestalten, die sich in den Büschen versteckt hatten, kletterten sie auf den Wagen. Es fiel kein einziges Wort. Als der Letzte oben war, klopfte jemand drei Mal auf das Dach und der überladene Wagen setzte sich mühsam
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher