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Der Schrei des Löwen

Der Schrei des Löwen

Titel: Der Schrei des Löwen
Autoren: Ortwin Ramadan
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erstochen. Als der Libyer ihn auf Arabisch beschimpfte, hatte Kutu seelenruhig sein Messer gezückt und zugestochen. Einfach so. Der Händler sei sofort tot gewesen.
    »Und wo ist Kutu jetzt?«, wollte Babatunde wissen. Der Schock saß tief.
    »Das weiß niemand«, erwiderte Maurice resigniert. »In diesem Land will keiner über Gefängnisse reden – alle haben Angst.«

40.
    Die Stimmung in der Ruine war auf dem Nullpunkt. Niemand wusste Rat. »Wir haben geschworen uns nie im Stich zu lassen«, gab Maurice zu bedenken.
    Sunday stimmte ihm zu. »Wir sind nur so weit gekommen, weil wir zusammengehalten haben. Wir können Kutu jetzt nicht hängenlassen.«
    »Ach ja?«, platzte es aus Babatunde heraus. »Und was willst du tun? Kannst du mir das vielleicht mal verraten?«
    Yoba hatte den Medizinstudenten noch nie so wütend gesehen. Aber er hatte Recht. Ein Mord vor Zeugen an einem einheimischen Gemüsehändler, begangen von einem schwarzafrikanischen Flüchtling – das war ein beinahe sicheres Todesurteil. Kutu konnte sich glücklich schätzen, wenn man ihn nicht auf der Stelle erschoss oder aufhängte. Auch Maurice und Sunday wussten, dass sie ihren Freund aus Ghana nie mehr wiedersehen würden.
    »Äh, wann geht ihr denn aufs Schiff?«, meldete sich Yoba vorsichtig zu Wort. Er hatte die Diskussion aufmerksam verfolgt. Allerdings gingen ihm dabei ganz andere Dinge durch den Kopf. Die Vorstellung, in wenigen Stunden allein mit Chioke zurückzubleiben, versetzte ihn schlichtweg in Panik. Er und sein Bruder mussten unbedingt mit auf das Schiff. Koste es, was es wolle.
    »Was hast du gesagt?« Yobas Frage hatte Babatunde aus seinen trüben Gedanken gerissen.
    »Ich wollte wissen, wann euer Boot ablegt. Wenn Kutu nicht mitkann, ist doch ein Platz frei, oder nicht? Den könnten wir uns doch teilen. Chi-Chi und ich zählen schließlich nur halb.«Yoba ergriff Chiokes schmale Hand. Er ließ keinen Zweifel an seiner Entscheidung aufkommen: »Ich will mit. Und mein Bruder auch!«
    Babatunde war nicht begeistert, aber er spürte Yobas wilde Entschlossenheit.
    »Lass ihn doch!«, mischte sich Maurice ein. »Wenn er’s unbedingt versuchen will. Was hat er schon zu verlieren?«
    »Sein Leben vielleicht?« Babatunde deutete im Dämmerlicht auf Chioke, der schweigend neben Yoba saß. »Oder das seines Bruders?«
    Sunday sprang seinem nigerianischen Freund zur Seite. »Babatunde hat Recht. Wir wissen alle, wie es auf den Booten zugeht. Ich will auch nicht schuld sein, wenn die beiden über Bord geschmissen werden.«
    Doch Yoba ließ sich nicht beirren. »Ich versuche es so oder so. Mit oder ohne euch. Eine andere Wahl habe ich nicht.«
    Er verschränkte trotzig die Arme und sah sie herausfordernd an. Aus unerfindlichen Gründen folgte Chioke dem Beispiel seines großen Bruders. Er verschränkte ebenfalls die Arme und setzte ein entschlossenes Gesicht auf.
    Babatunde konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er gab sich geschlagen. »Also schön«, seufzte er. »Aber wenn dich die Schleuser erwischen oder der Kapitän dahinterkommt, geht uns das nichts an. Verstanden?«
    »Abgemacht!«, strahlte Yoba. Am liebsten hätte er laut gejubelt, aber er musste an Kutu denken. Die Welt war grausam: Seine Not war Yobas Glück.
    Die Stunden bis zum Aufbruch kamen Yoba länger vor als die gesamte bisherige Reise. Die Dunkelheit legte sich über dieStadt, und da es in der Ruine kein Licht gab, machte er sich mit Chioke auf die Suche nach der nächsten Straßenlaterne. Er musste unbedingt seine Gedanken aufschreiben. Vielleicht konnte er seine Aufregung und seine Angst auf diese Weise ein wenig in den Griff bekommen. Chioke musste ihn begleiten, gleichgültig ob er wollte oder nicht. Yoba hatte sich geschworen seinen Bruder nie wieder auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
    Als er eine Gasse weiter eine Straßenlaterne ausfindig gemacht hatte, die nicht defekt war, ließ er sich mit Chioke in ihrem Lichtkegel nieder. Sein Bruder sah ihn an, als wolle er fragen, was sie hier verloren hätten, aber dann begann er sich mit den Steinen auf dem Boden zu beschäftigen. Yoba holte sein kleines Buch hervor und angelte sich den Bleistiftstummel aus seiner Hosentasche.
    Über ihm umschwirrten unzählige Falter und Mücken das flackernde Licht der Straßenlampe und prallten dabei immer wieder an der gesprungenen Glashülle der Laterne ab. Ihrem Bemühen haftete etwas Verzweifeltes an und Yoba fragte sich, wie viele der unzähligen Insekten bei
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