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Der Schockwellenreiter

Der Schockwellenreiter

Titel: Der Schockwellenreiter
Autoren: John Brunner
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eingeschlossen er selbst.
    Ein Reaktorunfall? Nach dem dreifachen Desaster des Vorjahrs ließ sich an den Delphi-Börsen feststellen, daß man viel Geld auf eine Frist von zwei vollen Jahren bis zum nächsten derartigen Unglück wettete. Nichtsdestoweniger kramte er sein einziges Radio heraus, ein Koffergerät. Kraft Gesetz mußte es in jedem Siedlungsraum von einer Million und mehr Bewohnern mindestens einen Rundfunksender mit MonoFrequenz zur ausschließlichen Verbreitung von Nachrichtenmeldungen geben, damit man die Öffentlichkeit vor Unruhen, Rotten-Matches und Katastrophen warnen konnte. Die Batterien waren schwach, aber er hielt sich das Gerät dicht ans Ohr und hörte mit etwas Mühe, daß der im Dienst befindliche Nachrichtensprecher sich in aller Gemütsruhe mit den Rekordwetten um die Höhe der Verluste bei den heutigen Football-Spielen befaßte. Hätte es einen Reaktorunfall gegeben, ohne Unterlaß wären Warnungen vor ausgetretener Strahlung zu hören gewesen. Wieso also, um alles in der Welt…? Ach. Fluckner?
    Er fühlte ein Schaudern sein Rückgrat hinabkriechen, und plötzlich bemerkte er, daß er sehnsüchtig den kleinen, verwaschenen Leuchtschein seiner Uhr anstarrte, als wäre diese Dunkelheit symbolisch für das Innere des Mutterleibs (Nachwehen seiner Erinnerung an Gaila und ihresgleichen, dazu verdammt, nicht als Menschen, sondern als Maultiere heranzuwachsen, Abkömmlinge einer gemischten Ehe zwischen freudianischen Psychoanalytikern und Behavioristen) und dieser rätselhafte Schimmer ein Vorbote seines Übergangs in eine fremdartige neue Welt. Und mit einem Aufwallen von Enttäuschung erkannte er, daß es sich tatsächlich so verhielt.
    Zumindest war die Luft, obschon sie stank, nicht allzu voll von CO2; er litt nicht an Kopfschmerzen, sondern verspürte nur ein gelindes Schwindelgefühl. Ein wenig beruhigt, tastete er sich nach nebenan in den Wohnbereich, wo er für Notfälle eine große Taschenlampe aufbewahrte. Sie mußte über genug Leuchtkraft verfügen, weil sie sich automatisch aus der Steckdose auflud. Doch als er sie anknipste, wirkte in ihrem gelblichen Lichtkegel alles ringsum so unvertraut und bedrohlich, und während er ihn umherschweifen ließ, huschten Schatten über die blanken Metallwände, Nachahmungen jener Schatten, von denen er sich gestern abend noch vorgestellt hatte, sie könnten Halbwüchsigen zum Umlauern Deckung bieten, die Anhänger des Tuns von Baron Samedi waren, des auf Kindesmißhandlungen spezialisierten St. Nikolaus oder gar Kalis.
    Er spritzte sich etwas von der Flüssigkeit ins Gesicht, die unter normalen Umständen Eiswasser aus dem mittleren Hahn über seinem Waschbecken gewesen wäre. Das half nicht viel. Der Strom war schon so lange ausgeblieben, daß aus dem Tank übler Geruch aufstieg. Er öffnete die Tür des Wohnwagens, ohne gereinigt oder erfrischt zu sein, und schaute sich um. Unter der schwungvollen Wölbung des Plastiks, wo der Altar es abstützte, berechtigte ihn ein ferner Helligkeitsschimmer zur Annahme, daß es ihm ohne fremde Unterstützung gelingen könne, ins Freie zu finden. Aber viel lieber hätte er freilich wieder Strom.
    Der Schmelzofen in seinem Büro war abgekühlt, der Kupferbarren lag bereit zur Entnahme. Dem Tisch-Computer war der Saft weggeblieben, bevor er seine doch viel dringlichere Aufgabe beenden konnte. Die vierte, nein, fünfte DelphiBeurteilung des Tages ragte aus der Anlage wie eine fahle steife Zunge, vorschriftsmäßig mit dem automatischen Notariatsstempel versehen. Aber auch das war im Moment unwichtig. Jetzt galt es festzustellen, ob Fluckner dafür gesorgt hatte (und wer sonst sollte ihn über Nacht diskreditiert haben?), daß man ihn des Stroms und aller Verbindungen zur Außenwelt beraubte. Die Antwort lautete: ja. Eine süße Bandstimme erklärte ihm, sein Anschluß sei vorerst gesperrt, bis im Prozeß um seine bis auf weiteres beschlagnahmten Vermögenswerte ein rechtskräftiges Gerichtsurteil vorliege. Wünsche er die Wiederherstellung des Anschlusses, müsse er den Nachweis erbringen, daß das Urteil zu seinen Gunsten ausgefallen sei. Prozeß? Was für ein Prozeß? Es wird doch wohl in diesem Bundesland nicht möglich sein, jemanden wegen eines Fluchs auf Schadenersatz zu verklagen? Dann begriff er allmählich, was los war, und fast hätte er gelacht. Fluckner hatte sich eines der ältesten Tricks aus der Mottenkiste des Computer-Zeitalters bedient und ins kontinentale Computer-System einen auto-reaktiven
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