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Der Schneider

Der Schneider

Titel: Der Schneider Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Weg vom Parkplatz zum Eingang. Er geht die Stufen hoch, dachte Pendel zufrieden. Und hörte die Schritte, lauter als das Unwetter. Da ist er, er steht vor der Tür, ich kann seinen Schatten sehen. Komm doch rein, Dummkopf, es ist nicht abgeschlossen. Aber Pendel blieb sitzen. Dazu hatte er sich erzogen. Sonst würde er den ganzen Tag Türen auf- und zumachen. Flecken durchnäßten braunen Gabardines erschienen wie Splitter in einem Kaleidoskop im durchsichtigen Halbglanz der kunstvoll auf dem Milchglas angebrachten Lettern: PENDEL & BRAITHWAITE, Panama und Savile Row seit 1932. Einen Augenblick darauf taumelte die ganze klobige Erscheinung im Krebsgang und mit dem Schirm voran in den Laden.
    »Mr. Osnard, nehme ich an« – aus den Tiefen seines Pförtnersessels – »treten Sie ein, Sir. Ich bin Harry Pendel. Schade, daß es jetzt gerade regnen muß. Möchten Sie Tee oder etwas Stärkeres?«
    Lüstling , war sein erster Eindruck. Lebhafte braune Fuchsaugen. Der Körper schwerfällig, die Gliedmaßen lang, typischer inaktiver Sportler. Also reichlich Stoff zugeben. Dann erinnerte er sich an einen Satz aus einer Varieténummer, den Onkel Benny zur gespielten Entrüstung Tante Ruths immer wieder zitiert hatte:
    »Große Hände, meine Damen, große Füße, und Sie alle wissen, was das bedeutet – große Handschuhe und große Socken.«
     
    Gentlemen, die bei P & B eintraten, sahen sich vor zwei Möglichkeiten gestellt. Sie konnten sich hinsetzen, wie es die Müßigen taten, ein Schälchen von Martas Suppe oder ein Glas mit irgendeinem Getränk akzeptieren, den neuesten Klatsch mitteilen und die Ruhe des Orts auf sich wirken lassen, bevor es, vorbei an den auf einem Tisch aus Apfelholz verführerisch ausgebreiteten Musterbüchern, die Treppe hinauf zum Anproberaum ging. Oder sie konnten sich schnurstracks in den Anproberaum begeben, wie es die Gehetzten taten, meist neue Kunden, die ihren Fahrern durch die hölzerne Trennwand Befehle zukläfften, die am Handy mit ihren Geliebten und Börsenmaklern telefonierten und auch sonst nichts anderes im Sinn hatten, als mit ihrer Wichtigkeit Eindruck zu machen. Bis im Lauf der Zeit die Gehetzten ebenfalls zu Müßigen wurden, für die wiederum ungestüme neue Kunden nachrückten. Pendel war gespannt, in welche dieser Kategorien Osnard fallen würde. Antwort: in keine von beiden.
    Und er zeigte auch keins der anderen Symptome eines Mannes, der kurz davor ist, fünftausend Dollar für seine äußere Erscheinung auszugeben. Er war nicht nervös, nicht zerfressen von Unsicherheit und Bedenken, weder aufdringlich noch geschwätzig noch übertrieben lässig. Er wirkte auch nicht schuldbewußt, aber das kommt in Panama ohnehin selten vor. Selbst wenn man gewisse Schuldgefühle mit ins Land bringt, fallen sie ziemlich schnell von einem ab. Er wirkte beunruhigend ruhig.
    Wie auch immer, er blieb einfach stehen, auf seinen triefenden Schirm gestützt, einen Fuß vorgestellt, den anderen auf der Matte, was erklärte, warum die Klingel im hinteren Flur immer noch schrillte. Aber die hörte Osnard nicht. Oder er hörte sie doch und machte sich nichts daraus. Denn während sie weiterschrillte, sah er sich mit heiterer Miene um. Er lächelte wie in plötzlichem Erkennen, als habe er unverhofft einen verloren geglaubten Freund wiedergefunden:
    Die geschwungene Mahagonitreppe, die zur Herrenboutique im Zwischengeschoß führte: du liebe Zeit, die gute alte Treppe … Die Seidenschals, die Morgenmäntel, die mit Monogrammen bestickten Hauspantoffeln: ja, ja, ich kann mich gut an euch erinnern … Die kunstvoll zu einem Krawattenständer umgearbeitete Bibliotheksleiter: wer hätte gedacht, das man so etwas daraus machen kann? Die träge unter der Stuckdecke kreisenden Ventilatoren, die Stoffballen, der Ladentisch, an dessen einem Ende die Scheren und der Messingmaßstab aus der Zeit der Jahrhundertwende lagen: alles alte Bekannte … Und schließlich der abgenutzte lederne Pförtnersessel, der örtlicher Legende zufolge noch aus dem Originalbesitz von Braithwaite persönlich stammte. Und Pendel, der darin saß und seinen neuen Kunden mit milder Überlegenheit anlächelte.
    Und Osnard erwiderte seinen Blick, musterte ihn unverfroren von oben bis unten: Er begann mit Pendels Gesicht, wanderte dann abwärts über die Knopfleiste der Weste und die dunkelblaue Hose zu den Seidensocken und den schwarzen Straßenschuhen von Ducker in Oxford, die oben in den Größen sechs bis zehn vorrätig waren. Dann

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