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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Autoren: Samia Shariff
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einander trotz der neun Jahre Altersunterschied beistehen konnten. Beim kleinsten Klagelaut lief ich zu ihr, um sie zu trösten.
    Als sie etwa ein Jahr alt war, stieß sie sich einmal den Kopf an einem Stuhl. Ich versuchte sie zu beruhigen, als meine Mutter das Zimmer betrat.
    »Oh! Was für ein rührendes Bild!«, spottete sie. »Ein Fluch in den Armen des anderen!«
    Dann fügte sie noch hinzu:
    »Du als Ältere trägst die Verantwortung für deine Schwester und musst ihr mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn du eine gute Muslimin und gute Ehefrau wirst, wird deine Schwester deinem Beispiel folgen. Und wenn du vor nichts Achtung hast, wird sie ebenfalls nichts achten. Verstehst du, was ich dir sagen will?«
    Ich nickte.
    Die Zukunft meiner kleinen Schwester lag auf meinen Schultern. Ich wollte nicht, dass sie eines Tages wegen mir zu leiden haben würde. Also musste ich mich noch stärker bemühen, stillzuhalten, auf meine Eltern zu hören, ein braves Mädchen und vor allem eine gute Muslimin zu werden.
    Als ich etwa zehn Jahre alt war, führte meine Mutter eine neue Kleiderordnung für mich ein. Sie zwang mich, von nun an lange, sehr weite Kleider zu tragen. Wenn ich eine Hose trug, musste ich eine lange Jacke darüberziehen, die meine Schenkel bedeckte. Meine Haare mussten nun immer zusammengebunden oder geflochten werden, um keinesfalls die Blicke der Jungen auf mich zu lenken.
    Ich war etwa dreizehn, als meine Mutter mich bei der Rückkehr aus der Schule zu sich rief.
    »Komm einmal her, damit ich dich genau ansehen kann!«
    Mit prüfendem Blick musterte sie meine Brust. Ich verstand nicht, was sie wollte, denn auf meiner weiten Jacke waren keine Flecken.
    »Was habe ich Gott nur angetan, dass ich das verdient habe? Sieh mich an«, befahl sie und schüttelte angewidert den Kopf. »Deine Brust zeichnet sich bereits ab! So etwas! Wenn dein Vater das sieht … Komm mit!«
    Rasch zerrte sie mich ins Badezimmer. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, denn sonst wäre ich hingefallen. Dort nahm sie einen Verband und hob meine Jacke hoch.
    »Ab jetzt musst du deine Brust abbinden, und zwar so fest, dass man nichts sieht. Würde dein Vater eine Veränderung an dir bemerken, würde er böse auf mich werden«, sagte sie trocken.
    Ich begriff ihre Angst. Für jedes meiner Vergehen machte mein Vater sie verantwortlich. Er warf ihr vor, dass sie mich nicht streng genug erzog. Nachdem mein Vater mich damals verprügelt hatte, hatte er auch sie geschlagen, denn schließlich hatte sie versagt.
    Unter dem straffen Verband konnte ich kaum noch atmen. Als ich das zu meiner Mutter sagte, erwiderte sie:
    »Wenn ich ihn lockere, besteht die Gefahr, dass man deine Brust sieht. Du musst den Schmerz also aushalten, um weitaus schlimmere Folgen für dich und auch für mich zu vermeiden.«
    Ich konnte mir ausmalen, wie diese Folgen aussahen!
    »Von nun wirst du jeden Morgen vor der Schule zu mir kommen, damit ich dir helfe, den Verband anzulegen. Später wirst du es dann allein können.«
    Lange, viel zu lange musste ich diesen Verband tragen.
    Als ich vierzehn Jahre alt war, bekam ich zum ersten Mal meine Regel. Beim Anblick des Blutes packte mich Panik. Für mich war das Blut ein Zeichen dafür, dass ich meine Jungfräulichkeit verloren und damit Schande über meine Familie gebracht hatte. Das wollte ich unbedingt vor meinen Eltern geheim halten. Als ich jedoch meiner Schulfreundin Nabila davon erzählte, lachte sie mich aus und erklärte, dass alle Mädchen in unserem Alter jeden Monat ihre Regel bekämen und ich dies meiner Mutter sagen müsse.
    Ich wusste, dass sie nicht erfreut darüber sein würde. Noch am gleichen Abend nahm ich all meinen Mut zusammen, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen.
    »Ich habe meine Regel gehabt, Mama!«, gestand ich schuldbewusst.
    Sie starrte mich an, als wäre ein furchtbares Unglück geschehen.
    »Weißt du, was das bedeutet?«
    »Nein«, antwortete ich verstört.
    »Es bedeutet, dass du jetzt jeden Augenblick schwanger werden kannst.«
    Hatte meine Mutter denn nichts anderes im Kopf als die Ehre der Familie?
    »Was sollen wir mit dir anstellen? Gott sei Dank bist du vierzehn Jahre alt und damit bald heiratsfähig. Bis es so weit ist, wirst du dich anständig betragen. Du darfst keine Geheimnisse haben und musst mir alles sagen, was in deinem Leben geschieht. Hast du verstanden?«
    Ich versicherte ihr, dass sie nichts zu befürchten hätte, da ich doch äußerst zurückgezogen im Schoß der
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