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Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur

Titel: Der Schleier der Angst - Der Schleier der Angst - Voile de la Peur
Autoren: Samia Shariff
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neben ihm stand, und sagte, ich solle mich setzen. Es war also etwas Ernstes, denn diese Gunst wurde mir sonst nie zuteil, wenn er mit mir sprach. Er war es gewohnt, Befehle zu geben, denen wir widerspruchslos zu gehorchen hatten. Nun aber sollte ich Platz nehmen … Bitte, Gott, gib, dass es nichts Schlimmes ist, und hilf mir!
    Mein Vater straffte seinen Körper und erklärte in feierlichem Ton:
    »Ich werde mich kurz fassen. Farid hat mir dein Zeugnis erläutert. Du hast die Mittelstufe gut abgeschlossen und bist nun bald fünfzehn Jahre alt. Du kannst jetzt lesen und schreiben. Ich habe meine Pflicht als Vater erfüllt, und nun musst du deiner Pflicht als Tochter genügen. Wir brauchen jetzt keine Zeit mehr mit solchen Dummheiten wie der Schule zu verschwenden. Von nun an bleibst du zu Hause, und deine Mutter wird dir beibringen, wie du eine gute Ehefrau wirst. Ich möchte, dass die Leute sagen: › Seht nur, die Tochter von Monsieur Shariff ist eine gute Tochter. ‹ Dann weiß ich, dass ich meiner Pflicht als dein Vater nachgekommen bin, und kann in Frieden sterben. Du musst dich vorbereiten, denn bald wirst du deinen zukünftigen Ehemann kennenlernen.«
    »Ja, aber, Papa, …«
    »Aber was?«, unterbrach er mich. »Halt den Mund! Ich will nichts mehr von dir hören. Hilf lieber deiner Mutter, anstatt in deinem Zimmer vor dich hinzuträumen. Hast du etwa in der Schule gelernt, deine Zeit auf diese Weise zu vergeuden?«
    Ich verließ eilig den Raum, aber ich konnte noch die Schimpfworte hören, die er mir nachrief. Wie gerne hätte ich ihm gesagt, dass ich nicht heiraten wollte, dass ich noch nichteinmal fünfzehn Jahre alt war und weiterlernen wollte, um später einmal arbeiten zu können. Aber leider waren derlei Diskussionen mit meinem Vater völlig unmöglich.
    In der Küche warf meine Mutter mir einen drohenden Blick zu, während mir die Tränen in den Augen standen.
    »Immer musst du dein großes Maul aufreißen«, warf sie mir zornig vor. »Du scheinst deinem Vater in keiner Weise dankbar zu sein, obwohl du die besten Schulen besuchen durftest. Er hat dir die Möglichkeit gegeben, dich zu bilden. Diese Chance habe ich nie gehabt. Zum Dank solltest du auf ihn hören und seinen innigsten Wunsch erfüllen. Bereite dich darauf vor, eine ehrbare Frau für deinen zukünftigen Ehemann zu werden. Wach auf, du verdorbenes Ding! Du bist schuld, wenn ich heute Abend die schlechte Laune deines Vaters ertragen muss.«
    Einmal mehr bürdete meine Mutter mir die Verantwortung für ihre eigene Unterdrückung auf, aber wie schwer ich wirklich an dieser Last trug, wurde mir erst sehr viel später bewusst. Ich fühlte mich schuldig, denn ich wusste, dass mein Vater sie schlug, wenn es ihr nicht gelang, uns zum Gehorsam zu zwingen. Obwohl meine Mutter sich mir gegenüber so kaltherzig verhielt, liebte ich sie und wünschte ihr nichts Böses.
    »Kann ich etwas tun, damit du keinen Ärger mit Papa hast, Mama?«
    »Daran hättest du früher denken müssen. Du hättest ihm bis zum Schluss zuhören sollen, ohne ein Wort zu sagen. Jetzt ist es zu spät, du kannst deine Dummheit nicht mehr rückgängig machen. Geh mir aus den Augen, du verdorbenes Ding! Ich will dich nicht mehr sehen. Verflucht sei der Tag, an dem ich dich zur Welt brachte!«
    Beschämt und verzweifelt flüchtete ich in mein Zimmer. Ich wollte nicht mehr leben! Was hatte ich von der Zukunft noch zu erhoffen? Nichts! Absolut nichts! Meine einzigeFreude waren meine Schulfreundinnen, und nun sollten auch sie mir genommen werden!
    Als Farid und Kamel, mein älterer und mein jüngerer Bruder, ins Zimmer kamen, sahen sie, wie verzweifelt ich war.
    »Und wenn ich einmal mit Papa spreche?«, schlug Farid mitfühlend vor.
    Doch ich wollte nicht, dass auch er den Zorn unserer Mutter auf sich zog.
    »Was für ein Glück du hast, dass du nicht mehr zur Schule musst! Das wäre mein Traum!«
    »Wein nicht, kleine Schwester! Glaub mir, es wird alles gut werden«, tröstete mich Farid.
    Seine ermutigenden Worte taten mir gut, denn er sprach nur selten mit mir.
    »Ich verstehe Papa nicht. Er müsste doch wissen, dass die Zukunft den gebildeten Menschen gehört.«
    »Das stimmt nicht!«, wandte Kamel ein. »Papa ist fast überhaupt nicht zur Schule gegangen, und trotzdem ist er so reich.«
    »Das ist wahr. Aber er braucht jemanden, der ihm seine Briefe vorliest.«
    Die Unterstützung meiner Brüder tat mir gut, aber ich beendete das Gespräch, da uns jemand auf dem Flur hätte hören
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