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Der schlafende Engel

Der schlafende Engel

Titel: Der schlafende Engel
Autoren: Mia James
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sollte dann wieder gehen«, sagte Mr Reece und wandte sich zur Tür. »Wie ich höre, geht es deiner Freundin Ling schon besser.«
    »Ja, ich glaube, sie wurde sogar schon entlassen. Ihre Eltern wollen sie in eine Rehaklinik im Ausland schicken, soweit ich weiß.«
    Lings Verletzung war als verzweifelter Selbstmordversuch nach der Demütigung durch Calvins brutalen Übergriff kommuniziert worden, und es hatte keine Zeugen gegeben, die etwas anderes ausgesagt hätten. Als die Polizei eingetroffen war, hatten sich die Blutsauger längst zerstreut und nichts als die nackten Gerüststangen zurückgelassen. Es war, als wären sie niemals auf dem Friedhof gewesen.
    April folgte Mr Reece den Flur hinunter.
    »Kann ich dich noch etwas fragen?«, sagte der Detective, als sie auf den Aufzug warteten.
    April nickte.
    »Wieso Vampire?«
    »Wie?«
    »An diesem Morgen im Haus deines Großvaters habe ich dich gefragt, wieso all das passiert, und du hast ›Vampire‹ gesagt.«
    »Ach, das.« April war auf die Frage gefasst gewesen und hatte sich eine Antwort zurechtgelegt. Es war keine besonders überzeugende Antwort, aber sie hoffte, sie würde ausreichen.
    »Vermutlich hat der Psychologe völlig recht. Der menschliche Verstand hat nur eine begrenzte Aufnahmekapazität. Mein Vater, Marcus, Layla, Mr Sheldon – all diese sinnlosen Todesfälle – und dann noch eine Leiche. Vermutlich habe ich nach irgendwelchen Strohhalmen gegriffen, weil ich eine Erklärung gesucht habe, auch wenn sie noch so absurd klingt.«
    Mit angehaltenem Atem wartete sie, während der Polizist sie ansah. »Ich weiß, dass dir das schon seit dem Tod deines Vaters zu schaffen macht«, sagte er. »In meinem Beruf hatte ich schon so oft mit dem Tod zu tun, April, und manchmal gibt es leider keinen Grund.«
    April ließ den Atem entweichen. Anscheinend hatte Reece ihr ihre Erklärung abgekauft. Andererseits – weshalb sollte er es auch nicht tun? Wer käme jemals auf die Idee, dass hinter all den Morden in Wahrheit eine Horde Vampire steckte? Das war doch völlig verrückt.
    »Vielleicht haben Sie ja recht, Mr Reece«, sagte sie. »Aber wissen Sie was? Diesmal ist es endgültig vorbei. Ich glaube, der Tod hat mich lange genug begleitet. Genug für den Rest meines Lebens.«
    Reece lächelte freudlos, als sie in den Aufzug traten.
    »Ich wünsche mir, dass du recht hast, April. Von ganzem Herzen.«

Einunddreißigstes Kapitel

    Ü berall auf dem Bett lagen Fotos verstreut. Fotos von April im Wonder-Woman-Kostüm, wie sie Sandburgen baute oder stolz ihre ausgefallenen Milchzähne präsentierte. Daneben lagen zahlreiche Erinnerungsstücke und sentimentaler Krimskrams: das winzige Plastiknamensschild aus dem Krankenhaus, drei Eintrittskarten für eine Vorstellung des Pantomimentheaters und sogar ein sorgsam in Papiertaschentücher gewickelter Kranz aus Gänseblümchen.
    »Ich kann nicht glauben, dass du all das aufbewahrt hast«, sagte April zu ihrer Mutter. »Ich dachte immer, solche Dinge bedeuten dir nichts.«
    Silvia zuckte mit den Achseln. »Wir konnten zwar keine Fotos aufhängen – jedenfalls keine mit mir –, das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich sie nicht aufheben wollte.«
    Sie gab April ein weiteres Foto – es zeigte April in einem Gymnastikanzug und mit einem kleinen silbernen Pokal in der Hand. »Du hast beim Trampolinspringen den dritten Platz belegt. Ich war so stolz auf dich.«
    »Daran erinnere ich mich nicht einmal mehr«, sagte April. Es war, als wären Erinnerungen wie diese vollkommen aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Aber vielleicht hatte sie all das auch bloß verdrängt, so als könnte oder wollte ihr Verstand alles, was sich außerhalb des Normalen bewegte, nicht akzeptieren, egal ob es gut oder schlecht war. Beim Anblick von Mums Fotosammlung war es, als laufe das Homevideo eines völlig anderen Menschen vor ihren Augen ab. Flüchtig fragte sie sich, ob sie selbst eines Tages gezwungen sein würde, die Fotos ihrer Kinder in verstaubten Schuhkartons aufzubewahren, sie jahrelang wegzusperren, wie ihre Mutter es hatte tun müssen. Silvia schien zu ahnen, was in ihr vorging.
    »Es ist vorbei, Schatz. Ganz ehrlich.«
    April wünschte, sie könnte den Optimismus ihrer Mutter teilen. Na gut, sie glaubte zwar ebenfalls, dass die große Verschwörung gemeinsam mit Thomas Hamilton in der Aula von Ravenwood gestorben war, das bedeutete aber noch lange nicht, dass es nie wieder einen Vampirkönig geben konnte oder einen Nachfolger, wenn auch
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