Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten erhebt sich

Der Schatten erhebt sich

Titel: Der Schatten erhebt sich
Autoren: Robert Jordan
Vom Netzwerk:
ungeschickt, wobei sie leise fluchte, daß so etwas sein mußte. Sie wollte durchaus ihren Respekt bezeugen, wie es einer Frau wie Siuan Sanche gegenüber selbstverständlich war, aber die Verbeugung, die sie gewöhnlich machte, hätte in einem Kleid ausgesprochen dumm gewirkt. Nun ja, und mit dem Knicksen hatte sie keine Erfahrung.
    Auf halbem Weg in die Hocke erstarrte sie mit bereits ausgebreitetem Rock. Siuan Sanche stand wohl so würdevoll wie eine Königin vor ihr, doch einen Augenblick lang lag sie gleichzeitig nackt auf dem Fußboden. Abgesehen von der Tatsache, daß sie nichts anhatte, war an der Vision noch etwas Eigenartiges, doch bevor Min sich darüber klar werden konnte, was daran so seltsam war, verschwand das Bild wieder. Die Vision war so eindringlich gewesen wie selten eine, aber sie hatte keine Ahnung, was sie bedeuten sollte.
    »Schon wieder Visionen, habe ich recht?« sagte die Amyrlin. »Nun, diese Fähigkeit kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Ich hätte dich gerade in jenen Monaten gebrauchen können, die du weg warst. Aber sprechen wir nicht mehr darüber. Was geschehen ist, ist geschehen. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht.« Sie lächelte verkrampft. »Aber wenn du so etwas noch einmal machst, lasse ich dir die Haut abziehen und mache Handschuhe daraus. Steh auf, Mädchen. Leane zwingt mir sowieso schon in einem Monat mehr zeremonielles Gehabe auf, als eine normale Frau in einem Jahr ertragen kann. Ich habe keine Zeit dafür. Heutzutage nicht. Also, was hast du gerade gesehen?« Min richtete sich langsam auf. Es war eine Erleichterung, mit jemandem zusammenzusein, die von ihrem Talent wußte, auch wenn es die Amyrlin selbst war. Sie mußte das Gesehene vor der Amyrlin nicht verbergen. Im Gegenteil. »Ihr habt... Ihr habt keine Kleider getragen. Ich... ich weiß nicht, was es bedeutet, Mutter.« Siuan lachte kurz und trocken auf. »Zweifellos nehme ich mir einen Liebhaber. Aber dafür habe ich leider auch keine Zeit. Es ist keine Zeit, den Männern auch nur zuzuzwinkern, wenn du das Boot leerschöpfen mußt.« »Vielleicht«, sagte Min bedächtig. Es konnte so etwas bedeuten, aber sie bezweifelte das. »Ich weiß es einfach nicht. Aber, Mutter, ich habe Visionen gehabt, seit ich die Burg betrat. Etwas Schlimmes wird geschehen, etwas Schreckliches!« Sie begann bei den Aes Sedai im Foyer und berichtete alles, was sie gesehen hatte, alles, was sie an Bedeutungen erkannt hatte, soweit sie sich sicher sein konnte. Sie behielt das meiste dessen, was Gawyn gesagt hatte, für sich. Sie mußte nicht erst ihn ermahnen, daß er die Amyrlin nicht ärgern solle, wenn sie anschließend eben dieses selbst tat. Den Rest berichtete sie so nüchtern wie möglich. Einiges von ihrer Angst wurde trotzdem deutlich, als sie alles wieder vor sich sah. Ihre Stimme zitterte hörbar, noch bevor sie fertig war.
    Der Gesichtsausdruck der Amyrlin änderte sich nicht. »Also hast du mit dem jungen Gawyn gesprochen«, sagte sie, als Min geendet hatte. »Na, ich glaube, ich kann ihn dazu bringen, daß er den Mund hält. Und wenn ich mich richtig an Sahra erinnere, könnte das Mädchen durchaus für eine Weile auf dem Land arbeiten. Wenn sie einen Gemüsegarten bearbeitet, kann sie keine Gerüchte verbreiten.« »Ich verstehe nicht«, sagte Min. »Warum soll Gawyn den Mund halten? Worum geht es? Ich habe ihm nichts gesagt. Und Sahra...? Mutter, vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Aes Sedai und Behüter werden sterben! Das dürfte bedeuten, daß ein Kampf stattfinden wird. Und wenn Ihr nicht eine Menge Aes Sedai und Behüter irgendwohin schickt - und auch Diener, denn ich habe auch tote und verwundete Diener gesehen -, wenn Ihr also das nicht tut, dann wird dieser Kampf hier stattfinden! In Tar Valon!« »Hast du das gesehen?« wollte die Amyrlin wissen. »Einen Kampf? Weißt du das sicher, oder rätst du nur?« »Was könnte es sonst sein? Mindestens vier Aes Sedai sind so gut wie tot. Mutter, ich habe seit meiner Rückkehr nur neun von Euch gesehen, und vier davon werden sterben! Und die Behüter... Was könnte es sonst bedeuten?« »Da gibt es mehr Möglichkeiten, als mir lieb sind«, sagte Siuan grimmig. »Wann? Wie lange, bis das... Ereignis... eintritt?« Min schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das meiste wird sich innerhalb eines oder zweier Tage abspielen, aber das kann morgen sein oder in einem oder zehn Jahren.« »Laß uns hoffen, daß es erst in zehn Jahren passiert. Wenn es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher