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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans
Autoren: Ulrich Ritzel
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Sorgfalt die neuen, vor einer Stunde angelieferten Möbel zu untersuchen. Sibylle Otternwand war eine Münchner Innenarchitektin, absolut fashionable, top of the top. Sie hatten sich in Davos beim Eislaufen kennen gelernt, und auch Elisabeths Ehemann Eberhard hatte sich der hinreißenden Kompetenz Sibylles nicht entziehen können, zumal nicht nach der Geschichte mit der weißblonden MTA, auf die ihm Elisabeth erst so spät gekommen war.
    »Es ist noch großartiger, als ich mir’s vorgestellt hab’«, sagte Elisabeth und schwebte zu Sibylle, die vor der lang gestreckten Sitztruhe kniete. Auf dem geschwungenen Eichendeckel mit der kreisförmigen Maserung würden gut und gerne fünfzehn oder zwanzig Partygäste Platz nehmen können, oder wenigstens zwölf, und überhaupt sollte Eberhard es ja nicht wagen, noch ein einziges Mal am Sinn dieses Möbelstücks zu mäkeln. »Der Deckel geht nicht auf«, sagte Sibylle und fummelte am Schlüsselloch der Truhe.

    »Natürlich geht er auf, automatisch sogar«, sagte Elisabeth.
    Der Deckel schlug hoch und rastete in der Feststellsicherung ein.
    »Was?«, sagte Sibylle. Blaugrau bewegte sich etwas in der Truhe. Elisabeth wollte schreien.
    »Kein Stress«, sagte eine Stimme. Sie gehörte einem Mann in einem Arbeitsoverall.
    »Nicht schreien«, wiederholte der Mann. Er hatte sich rasch aus der Truhe hochgestemmt. Seine ausgestreckte Hand wies auf die beiden Frauen. Mit der anderen umgriff er eine lange Feile. »Niemand passiert etwas, wenn Sie ruhig bleiben. Alles okay?«
    Jetzt erkannte Sibylle den Mann. Sie hatte in der Schreinerei der Justizvollzugsanstalt mit ihm zu tun gehabt und wusste noch, dass er höflich gewesen war und kompetent. Einmal hatte sie sich sogar gefragt, was ein solcher Mensch eigentlich im Knast zu suchen habe. Sie überlegte, ob sie den Mann einfach anschreien sollte. Dann sah sie, dass seine Augen sie warnten. Und dass die Feile wirklich sehr lang war und sehr spitz zulief.
    »Es ist alles okay«, antwortete Sibylle, mehr zu Elisabeth gewandt.
    »Wer ist sonst im Haus?«, fragte Thalmann.
    »Niemand«, brachte Elisabeth heraus, »es ist sonst niemand hier, wirklich nicht.«
    »Dann zeigen Sie mir das Bad«, sagte Thalmann. »Beide. Gehen Sie nebeneinander vor mir her. Versuchen Sie keine Tricks. Schreien Sie nicht. Diese Feile macht fürchterliche Wunden.«
    Elisabeth führte ihn zu Eberhards Bad. Auch hier Marmor, die Kacheln alabasterweiß.
    »Wieso ist da kein Klo?«, wollte der Mann wissen.
    »Das ist nebenan.«
    »Scheiße«, sagte Thalmann und befahl den beiden Frauen,
sich vor die Badewanne hinzuhocken und die Hände hinter dem Kopf zu falten. Dann stellte er sich vor das Handwaschbecken und schlug sein Wasser ab. Als sie das Geräusch erkannte, zuckte Elisabeth zusammen, peinlich berührt. Sibylle wusste plötzlich nicht mehr, ob es ein Gelächter war, das sie in sich zu unterdrücken versuchte. Oder die nackte, halsklopfend panische Angst.
    »Was glauben Sie, wie lange ich in dem Kasten gesteckt bin?«, sagte Thalmann schließlich und schüttelte die letzten Urintropfen ab.
     
    Zürn trank in der Wache einen Becher Kaffee. Er hatte Maugg anzurufen versucht, aber der war nicht ans Telefon gegangen. Zürn überlegte, wie viel Zeit sie noch hätten. Die Lieferung mit der Mooreiche natur war vor zwei Stunden am Tor abgefertigt worden, vor einigen Minuten hatte die Mittagspause begonnen. Zürn entschied sich, nach Maugg zu sehen.
    Die Schreinerei war verlassen. Zürn stieß die Tür zum Verschlag des Werkmeisters auf. Maugg lag mit dem Oberkörper auf dem Schreibtisch. Aus seinem Mundwinkel sickerte Blut. Zürn zögerte. Dann fiel ihm ein, dass es so noch viel besser war als sein ursprünglicher Plan. Sehr viel besser. Über die Hausleitung rief er in der Hauptwache an. »Sie haben den Maugg zusammengeschlagen«, sagte er dann. Und: »Wir brauchen den Notarzt.« Als Nächstes rief er Pecheisen an. Danach die Krankenstation. Sicherheitshalber drückte er auch noch Mauggs Alarmknopf.
    Über der Anstalt heulten die Sirenen auf. Warnlichter flackerten, Monitore schalteten sich ein und aus. Wachmannschaften rannten über den Hof zum Trakt B und stießen mit den Beamten zusammen, die ihnen von dort entgegenkamen. In den Aufenthaltsräumen pfiffen und johlten die Gefangenen. Die Wachmänner machten kehrt und stürmten zum Trakt der Anstaltsleitung.

    In der Schreinerei sah Zürn dem Mann auf dem Schreibtisch beim Sterben zu. Irgendwo hatte er gelesen, dass
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