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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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Sie schaute genauer hin, und die Umrisse wurden deutlicher. Myra entdeckte, dass das Tier sich in der Krone eines riesigen Baumes niedergelassen hatte.
    Einen Augenblick wunderte sie sich über die Größe des Baumes. Wie ungewöhnlich, dachte sie, so weit oben, schon fast an der Baumgrenze . Dann aber tat sie einen mutigen Schritt vorwärts und schritt zwischen den Säulen hindurch.

    Chad beobachtete gebannt, was sich unweit vor ihm auf dem Berghang abspielte.
    Ehrfurchtsvoll starrte er auf die Felssäulen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Nie hatte er etwas Vergleichbares gesehen!
    Chads Gedanken begannen sich zu überschlagen, denn mit einem Mal glaubte er zu wissen, was dort so friedlich und majestätisch vor ihm lag. Unzählige Sagen seines Volkes rankten sich darum … ein Tor zur Geisterwelt!
    Solche Tore waren, wenn man den Erzählungen Glauben schenkte, nur zu bestimmten Zeiten oder für bestimmte Personen sichtbar und zugänglich, und nie hätte er sich träumen lassen, einmal Zeuge eines solchen Ereignisses zu werden.
    Er beobachtete, wie die Frau, um die er gerade eben noch so sehr besorgt gewesen war, sich aufrichtete und auf die Felssäulen zuging.
    »Hallo, sehen Sie sich vor!«, rief er ihr zu, aber sie schien ihn weder zu sehen noch zu hören.
    Chad versuchte, schneller zu gehen, aber über das Geröll kam er nur langsam voran. Er musste die Frau warnen. Wenn es sich bei den Säulen wirklich um ein Tor zur Geisterwelt handelte, dann barg es viele Gefahren. Nur wenige Älteste wussten genau, was einen Menschen auf der anderen Seite erwartete. Chad selbst wusste nur so viel: Hatte man das Tor erst einmal durchschritten, so war es nicht gewiss, dass man in diese Welt zurückkehrte. In den Erzählungen seiner Kindheit waren es daher immer nur besonders geschulte Medizinmänner oder -frauen gewesen, die eine solche Reise gewagt hatten.
    Chad hatte die Frau fast erreicht, als ihn ein seltsames Gefühl von Vertrautheit überkam. Das ovale Gesicht, die schlanke Figur, die langen hellbraunen Haare – das alles kam ihm irgendwie bekannt vor. Die Tankstelle … Chads Puls schlug schneller, als er sie erkannte.
    »Nein, warten Sie! Bleiben Sie stehen!«, rief er und sprang dabei, so schnell es ging, über die Felsbrocken und auf die junge Frau zu.
    Vergeblich. Sie schritt durch die Felssäulen, ohne zu zögern, ohne sich umzusehen!
    Kurz überlegte er, ob er ihr folgen sollte. Noch war das Tor sichtbar. Vielleicht war es seine Aufgabe, der jungen Frau zur Seite zu stehen.
    Sollte er das wirklich tun? Chad blickte sich um. Ein seltsames Drängen, eine unbestimmte Wichtigkeit und zugleich eine unabdingbare Dringlichkeit breiteten sich in seinem Kopf aus und strömten in jede Faser seines Körpers. Einen Augenblick lang vermeinte Chad, den würzigen Duft von Lagerfeuerrauch zu riechen, und unwillkürlich musste er an die Zeremonie vom gestrigen Abend denken. Konnten die beiden Ereignisse miteinander verbunden sein? Eine innere Stimme sagte ihm, dass es so war.
    Plötzlich waren die Felssäulen verschwunden.
    Chad verstand. Er würde an dieser Stelle auf die junge Frau warten. Er wusste nicht, wie lange er würde ausharren müssen, er spürte nur, dass er für sie da sein musste, wenn sie von ihrer Reise zurückkehrte.

K APITEL 2

Welt der Ahnen
    M yras Augen weiteten sich, als sie sah, was auf der anderen Seite der Felssäulen auf sie wartete: Riesige Laubbäume und Koniferen mit Stämmen, so stark, dass zwei Menschen sie nicht zu umfassen vermochten, breiteten sich, in warmes Sonnenlicht getaucht, wie ein gigantischer Wald vor ihr aus.
    Myra blinzelte. Konnte es wahr sein? Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als sie feststellte, dass die Berge verschwunden waren. Es wehte zwar immer noch ein leichter Wind, aber der fühlte sich auf unerklärliche Weise irgendwie anders an. Und die Luft! Es roch nach Waldboden und nicht mehr nach felsiger Berglandschaft. Doch da war noch ein anderer Geruch … Myra konnte es nicht in Worte fassen. Was immer es für ein Duft war – er war herrlich!
    Fasziniert bückte Myra sich und streckte die Hand nach einer kleinen Blume aus, die wie ein Gänseblümchen aussah. Als ihr Blick auf ihre Hand fiel, fuhr sie erschrocken zusammen: Das war nicht ihre Hand! Natürlich war es ihre Hand, es war ja auch ihr Arm, an dem sie hing, aber es war nicht wirklich ihre Hand.
    Verunsichert blickte Myra an sich herunter. Langes und sehr helles blondes Haar
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