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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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hatte ihr ursprüngliches braunes Haar ersetzt und fiel lose über ihre Schultern, und ihr Körper steckte in einer sehr ungewöhnlichen Kleidung. An ihren Füßen steckten einfache, schmucklose Lederschuhe, die an indianische Mokassins erinnerten. Dazu trug sie einen nicht einmal knielangen Rock aus einem grobgewebten kratzigen Material und ein Hemd mit Ärmeln, das aussah, als sei es aus kleinen gewebten Vierecken zusammengesetzt. Um ihre Taille war ein gewebter Gürtel geschlungen, an dem ein kurzes Flintmesser und ein Kamm aus Horn befestigt waren. An den Enden war er mit runden Scheiben verziert. Das Material erinnerte Myra stark an Knochen, aber darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken. Stattdessen betrachtete sie ihre Handgelenke, an denen Armreifen hingen, die aus Elfenbein gearbeitet zu sein schienen.
    »Wo bin ich?«, fragte sie leise. »Was ist geschehen?« Sie schaute sich um. Sonnenlicht fiel durch die Baumkronen und ließ goldene Lichter auf dem Waldboden tanzen, auf dem lange Gräser, niedrige Büsche und unzählige Wildblumen wuchsen. Die untersten Äste der Bäume waren so hoch, dass Myra aufrecht darunter zu stehen vermochte. Die Landschaft, obwohl rau und urzeitlich, glich einem weitläufigen Park. Das konnte nicht wahr sein! Sie musste sich das alles einbilden. Myra drehte sich zu der Stelle um, wo sie eben gerade die Felssäulen durchschritten hatte.
    Sie erstarrte. Die Säulen waren verschwunden! Und mehr noch – der urzeitliche Wald hatte sich um sie herum geschlossen. Wie sollte sie dorthin zurückgelangen, woher sie gekommen war?
    Myra spürte, wie plötzlich ein eigenartiges Gefühl ihren Körper durchflutete, so als trenne sie sich von ihrem ursprünglichen Selbst.
    Sie zwang sich, ruhig zu bleiben.
    Durch die Bäume hindurch erspähte sie eine kleine Lichtung mit einem Tümpel. Zielstrebig ging sie darauf zu.
    Das Wasser war unbewegt und glatt. Myra kniete am Ufer nieder und beugte sich zögernd über das Wasser. Sie musste herausfinden, was geschehen war.
    Augenblicklich fuhr sie zusammen. Das Gesicht, das ihr aus dem vom Sonnenlicht erleuchteten Wasser entgegenblickte, war nicht sie selbst, sondern jemand anders. Jemand, der wunderschön war – atemberaubend schön!
    Sie sah eine kleine, zierliche junge Frau mit klassischen ebenmäßigen Gesichtszügen, makelloser, sehr weiblicher Figur und langem weißblonden Haar. Die Person war so anders als das, was Myra normalerweise sah, wenn sie in den Spiegel blickte, dass es ihr die Sprache verschlug! Dieser Körper gehörte ganz offensichtlich nicht ihr. Aber irgendwie war sie in ihn hineingeraten! Es war nicht so, dass sie das als unangenehm empfand. An jedem anderen Tag, an jeder anderen Stelle hätte Myra einer solchen Wandlung nur zu gern zugestimmt, war ihr eigenes Erscheinungsbild doch viel gewöhnlicher und nichtssagender im Vergleich zu dieser Frau! Aber in diesem Augenblick war ihr alles unheimlich, und sie wollte nichts lieber als zurück auf den Berghang, zurück zu ihrem Allerwelts-Ich!
    Plötzlich erschien ein zweites Spiegelbild auf der stillen Wasserfläche des Tümpels, und eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Gleich darauf fragte eine helle Frauenstimme: »Hörst du nicht zu, Runa? Wieder und wieder habe ich deinen Namen gerufen!«
    Myra erschrak. Wer war Runa ? Und wer war die andere Frau? Warum verstand sie, Myra, die Sprache der anderen Frau, die nicht Englisch gewesen war?
    »Runa, geht es dir gut?«, fragte die andere Frau besorgt.
    Myra wusste nicht, was sie tun sollte. Was würde geschehen, wenn die Frau herausfand, dass sie nicht Runa war?
    Sie war entschlossen, sich nicht zu verraten, und so erhob sie sich langsam und nickte zögernd. Dabei musterte sie die Fremde: Die Frau war ähnlich gekleidet wie sie selbst oder, besser gesagt, wie Runa und hielt einen Weidenkorb in der Hand, der gefüllt war mit allerlei Pflanzen und Kräutern. Sie hatte langes leuchtend rotes Haar, das im Nacken zusammengebunden war, freundliche graue Augen und ein elegantes Gesicht mit edlen Zügen. Sie war hochgewachsen und schlank. Eindringlich sah sie Myra an.
    »Lass uns unsere Arbeit beenden«, sagte die andere Frau schließlich. »Halvar braucht diese Kräuter für die Bestattungszeremonie, und wir müssen noch Algen sammeln.«
    Als Myra das Wort Bestattungszeremonie hörte, wurde ihr beinahe übel. Was sollte sie tun? Wie lange würde sie ihre wahre Identität noch verheimlichen können? Sie hatte keine Ahnung, wovon
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