Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
konzentrieren.«
»Danke, aber wir ziehen es vor, zu bleiben, Mr Morris«, antwortete Chad kühl. »Und wenn Sie genau wissen, welche Geschichte Sie interessiert, warum fragen Sie meine Tante nicht einfach danach? Das würde die Sache viel einfacher machen, und es würde auch schneller gehen. Oder wollen Sie mir sagen, dass Sie mit Ihrer Fragerei keine bestimmte Geschichte im Kopf hatten?«
Heather lächelte ihren Großneffen liebevoll an und legte ihre dünne, runzlige Hand beruhigend auf seinen Arm.
»Sie sind ein guter Menschenkenner«, sagte Morris aalglatt und wandte sich wieder an Heather. »Es stimmt. Es gibt eine Geschichte oder – besser vielleicht – eine Legende, die mich besonders interessiert, und man hat mir gesagt, dass Sie sie am besten kennen, besser als alle anderen Ältesten. Es handelt sich um die Legende vom Lachen der Kinder .« Er sah die alte Frau erwartungsvoll an.
Chad und Myra warfen sich einen erstaunten Blick zu. Von allen Mythen und Legenden, die es in dieser Gegend gab, hatte er ausgerechnet diese ausgewählt. Wie war er darauf gekommen? Es war eine der Legenden, die eigentlich nicht an Außenstehende weitergegeben wurden, weil sie für den Stamm von großer mythischer Bedeutung waren. Umso erstaunter waren die beiden, als Heather, ohne zu zögern, wohl aber mit einem weisen Lächeln auf den Lippen, gutmütig mit dem Kopf nickte und mit leiser, ruhiger Stimme sagte:
»Ich glaube, ich weiß, von welcher Legende Sie sprechen. Es handelt sich um eine sehr, sehr alte Geschichte aus längst vergessenen Tagen.« Sie machte eine Pause, um ihre Gedanken zu sammeln. Schließlich begann sie, bedächtig zu erzählen.
»Vor langer, sehr langer Zeit lebte eine junge Frau mit wunderschönem langen weißblonden Haar in einem fernen, fernen Land. Ihr Leben verlief gleichförmig, bis sie eines Nachts im Traum eine Botschaft erhielt.« Heather legte eine kurze Pause ein.
Myra lauschte gebannt Heathers Worten. Obwohl sie die Geschichte schon kannte, war es jedes Mal spannend, sie aus Heathers Mund zu hören. Sie hatte eine besondere Gabe, Geschichten zu erzählen.
»Die junge Frau konnte die Bedeutung der Worte, die ihr als Botschaft im Traum überbracht worden waren, jedoch nicht verstehen«, fuhr Heather fort, »denn die Worte entstammten nicht ihrer eigenen Sprache. Deshalb vertraute sie sich dem weisen Medizinmann ihres Dorfes an. Er half ihr, ihren Traum zu verstehen, und bereitete sie in einer Zeremonie auf die lange und gefährliche Reise vor, die ihr bevorstand. Denn«, betonte Heather mit geheimnisvoller Stimme, »es war dem Medizinmann offenbart worden, dass es die Aufgabe der jungen Frau sein sollte, die Traumbotschaft dorthin zu überbringen, wo ihre Worte verstanden würden.« Wieder hielt die alte Dame inne. Ihr Blick hatte sich auf einen unbestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet, und sie schien tief in ihrer Erinnerung versunken zu sein. Schließlich sprach sie weiter. »Die abenteuerliche Reise der Frau dauerte mehrere Jahre und führte sie weiter von ihrem Zuhause fort, als sie es sich je hätte ausmalen können. Sie durchquerte den nordeuropäischen Kontinent und Eurasien. Immer wieder wurden ihr Vertrauen in die Geister und ihr Mut auf eine harte Probe gestellt. Sie musste viele gefährliche Abenteuer bestehen.« Heather schüttelte den Kopf. »Was für ein Erlebnis!«
Myra hing wie gebannt an ihren Lippen und rührte sich nicht. Jedes Mal wenn Heather eine der alten Geschichten erzählte, vergaß sie alles um sich herum.
»Schließlich gelangte die junge Frau an den Pazifischen Ozean, und sie dachte, ihre Reise sei zu Ende. Doch das war sie noch lange nicht! Es ging weiter, noch viel weiter.« Heather blickte zum Fenster hinaus und schwieg. Doch Myra und Chad wussten, dass sie mit ihrer Erzählung noch nicht am Ende war. Wenig später begann Heather dann auch wieder zu sprechen.
»Es bedurfte der Hilfe eines tüchtigen Seefahrervolkes, und es dauerte viele Monde, aber schließlich überquerte die junge Frau den Ozean und erreichte unsere schöne Nordwestküste … Ja, man mag es kaum glauben, aber es ist wahr. Hier in Kanada … Die Geister waren ihr wohlgesonnen.«
Morris rutschte ungeduldig auf dem Sofa hin und her und trommelte mit den Fingern auf seinem Knie. Chad konnte ein solch respektloses Verhalten kaum fassen. Aber Heather ließ sich nicht hetzen. Nach einer weiteren Pause fuhr sie fort, ein entrücktes Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Als
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