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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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die junge Frau das Dorf unserer Vorfahren erreichte, stellte sie fest, dass sie am Ziel ihrer Reise angelangt war. Die Mitglieder des Stammes staunten über ihre weißblonde Haarpracht und ihre Schönheit, und sie verehrten sie wegen ihrer Weisheit und ihrer außergewöhnlichen magischen Fähigkeiten. Unsere Vorfahren haben die Worte, die der jungen Frau Jahre zuvor im Traum übermittelt worden waren, verstanden, denn sie entstammten unserer Sprache. Die Botschaft war für uns bestimmt gewesen. Die Worte der Botschaft lauteten: Mahmele Leeyem. Das Lachen der Kinder.«
    Heathers Blick kehrte langsam zu ihren Besuchern zurück, und es schien eine Weile zu dauern, bis ihre Gedanken wieder in der Gegenwart des kleinen Wohnzimmers angekommen waren.
    Myra und Chad lächelten sie dankbar an. Es war jedes Mal eine Ehre für sie, einer von Heathers Geschichten zu lauschen.
    Aber Morris war noch immer nicht zufrieden. »Gibt es zu der Legende nicht noch mehr Einzelheiten, die Sie vergessen haben zu erzählen? Einen besonderen Talisman zum Beispiel?«
    Heather überlegte einen Augenblick. »Jetzt, wo Sie es erwähnen, ja, ich glaube, da war so etwas. Ein Talisman mit magischen Kräften, den die junge Frau – vielleicht zu ihrem Schutz – bei sich trug. Ich kann mich nicht genau erinnern.«
    Morris fuhr sich aufgeregt durchs Haar.
    »Wie sah der Talisman aus? Was ist mit ihm geschehen?«, drängte er weiter.
    Chad und Myra waren empört über das unmögliche Verhalten des Besuchers. Nur ein Weißer würde das feinfühlige indianische Protokoll über Benehmen und Respekt gegenüber den Ältesten derart missachten! Da Heather selbst jedoch noch immer gutmütig zu sein schien, hielten sie sich zurück.
    »Ich bin schon alt«, erklärte Heather ruhig, ohne dem Verhalten des Mannes Beachtung zu schenken. »Meine Erinnerung lässt nach. Hätten Sie mich vor zwanzig Jahren gefragt, hätte ich mich vielleicht an solche Kleinigkeiten erinnert. Aber heute …« Sie lachte leise. »Myra, erinnerst du dich genauer an den Talisman oder was es damit auf sich hatte? Ich habe dir die Geschichte vor langer, langer Zeit das erste Mal erzählt, als ich vielleicht noch mehr Einzelheiten im Kopf hatte. Dein Gedächtnis ist immer so ausgezeichnet.«
    Morris wandte sich Myra zu und warf ihr einen scheinbar interessierten Blick zu. Aber sein Schweigen und etwas in seinem Gesicht jagten einen Kälteschauer durch Myras Körper, und ihr Kopf begann zu schmerzen.
    Es stimmte, Heather hatte ihr die Geschichte tatsächlich vor vielen Jahren das erste Mal erzählt. Myra rieb sich die pochenden Schläfen und versuchte, sich zu erinnern. Es musste bei einem der ersten Treffen mit Heather gewesen sein, kurz nachdem Myra sich mit Chad angefreundet hatte. Myra war damals frisch verliebt gewesen und hatte den Worten der alten Tante nicht immer konzentriert gelauscht. Ja, Heather hatte damals etwas von einem Talisman erwähnt. Aber Einzelheiten? Je mehr sie versuchte, sich zu erinnern, desto weniger gelang es ihr. Alles, was sie vor ihrem inneren Auge sah, waren Rauch- oder Nebelschwaden, die wild durcheinanderwirbelten.
    Ihre Kopfschmerzen wurden immer stärker. Hinzu kamen der kalte Ausdruck in Morris’ Gesicht und seine schlechten Manieren.
    »Nein, an einen Talisman kann ich mich nicht erinnern«, sagte sie leise.
    Umso erstaunter war sie, als Morris gleich darauf mit unerwartetem Schwung aufstand, sich auf freundlichste Weise und mit übertrieben kräftigem Händeschütteln von ihnen verabschiedete und in größter Eile das Haus verließ.
    Auch Chad und Heather waren sehr erstaunt über das seltsame Verhalten des Besuchers. Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, und jeder hing seinen Gedanken nach.
    Irgendwann unterbrach Heather die Stille.
    »Das war ein langes Gespräch. Es hat mich mehr angestrengt, als ich zuerst angenommen hatte. Ich fürchte, ich bin heute Abend zu müde, um euren lieben Besuch schätzen zu können. Aber kommt, trinken wir noch eine Tasse Tee, bevor ihr euch auf den Weg macht.« Sie schenkte nach. Bevor sie sich wieder setzte, fiel ihr ein, dass sie in der Aufregung etwas vergessen hatte.
    »Myra, ich habe etwas für Emma. Nimmst du es ihr bitte mit?« Sie stand auf und ging zu einer Kommode und begann, in einer Schublade zu kramen. »Wo habe ich es nur?«
    Myra ging zu Heather.
    »Was ist es denn?«
    Heather lächelte erleichtert, zog eine mit indianischer Perlenstickerei reichverzierte Haarspange hervor und gab sie Myra.
    »Hier.
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