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Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Titel: Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Autoren: Ulrich Wickert
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die Wirkung von Botox hält höchstens sechs Monate vor. Er vermisste sie trotzdem, aber er vermisste sie nicht, wenn er daran dachte, wie sie sich mit ihren Freundinnen traf - wie einst zu Tupperware-Verkaufstees -, zu Meetings mit dem Schönheitsspezialisten, der mit der Botoxspritze die Damen
    einzeln im Nebenzimmer verarztete.
    Entspann dich, versuchte Jacques sich zu beruhigen, entspann dich, du findest den Weg zurück ohnehin nicht allein.
    Amadee und Loulou tanzten jetzt wie in Trance. Man Yise rüttelte an Jacques Arm und prustete kreolische Sätze heraus, die er nicht verstand, aber die Geste mit der Tafia-Flasche war eindeutig. Alle schauten ihn an. Er trank noch einen Schluck, was lauten Jubel auslöste. Man Yise schlug Jacques auf die Schulter. Ihm gegenüber saß ein kräftiger Kreole mit Glubschaugen in einem großen, runden Kopf, der eine neue Flasche aus der Kiste holte, den Korken mit seinen Ziegenzähnen herauszog, einen langen Schluck nahm und den Tafia an ihn weiterreichte mit dem Wort »Frere« - Bruder.
    Jacques wollte sich im Kreis der feiernden Trauergemeinde kein Zögern erlauben, so nippte er nur, was anschwellenden Protest von allen auslöste. Eine Hand kippte die Flasche in seinen Mund, so dass der Rum aus den Mundwinkeln in seinen Hemdkragen lief. Alle brüllten vor Lachen und schlugen sich auf Schultern und Schenkel. Jacques fürchtete nun einen Bruderschaftskuss von Man Yise, aber die fragte nur, ob er Gilles jüngerer Bruder sei.
    Jacques sah sie erschrocken an: »Gilles hätte höchstens mein Vater sein können.«
    Wieder lachten alle. Jacques überlegte, ob er gelallt hatte. Der Kreole nahm noch einen Schluck Tafia und reichte ihm erneut die Flasche. Jacques spürte alle Blicke und wusste, dass er noch einen großen Schluck trinken musste. Als er die Flasche polternd wieder auf dem Holztisch absetzte, hielt er sich an ihrem Hals fest, als wäre sie eine Säule.
    Loulou setzte sich neben ihn, nahm einen Schluck und reichte ihm wieder die Flasche. Mit lautem Lachen und einem kumpelhaften Schlag auf die Schulter machte der kräftige Mann Jacques zum Mittelpunkt des Kreises. Jacques ahnte, was sie
    vorhatten, aber er konnte sich nicht mehr wehren.
    Immerhin nahm er noch mit leichtem Wohlgefühl wahr, dass plötzlich zwei Finger von Amadees warmer Hand seine Haut über dem Kragen berührten, als sie sich wie zufällig auf seine Schulter stützte, um die Rumflasche auf dem Tisch zu ergreifen. Durch einen kurzen Druck ihrer Finger machte sie klar, dass diese Geste nicht zufällig geschah. Er sah ihr zu, wie sie grazil einmal schluckte und ihm dann die Flasche reichte, die beiden Finger immer noch an seiner Haut über dem Kragen.
    Der Tafia kreiste und kehrte immer wieder zu Jacques als Mittelpunkt zurück. Unter großem Gelächter.
    »Würden Sie mir, bitte, noch ein Glas Zitronensaft reichen?«, fragte Jacques seine Gastgeberin. Das frische, saure Getränk wirkte belebend. Amadee saß ihm gegenüber am Frühstückstisch, der mit frischen Früchten, zwei aufgebackenen Buttercroissants, Säften und starkem Kaffee gut, aber nicht übermäßig reichlich gedeckt war. Ihm fiel auf, dass das dünne, mit tropischen Vögeln bemalte Porzellan von Hermes stammte, das Silberbesteck von Christofle.
    Jacques nahm seinen Saft entgegen. Und um ihr nicht das Gefühl zu vermitteln, er sei von ihrer Schönheit beeindruckt, stierte er über sie hinweg in die Ferne.
    »Bei ganz klarem Wetter kann man das Meer sehen«, sagte sie.
    »Reiten Sie?«, fragte Jacques, der auf der Weide zwei Pferde grasen sah. Das gepflegte Grün zog sich, in leichten Wellen abfallend, mindestens zwei Kilometer hin bis zu der endlos scheinenden Bananen-Plantation, die in weiter Ferne dann mit dem dunkelgrünen Urwald verschmolz, der sich vom Osthang
    des Mont Pelee bis zum Atlantik ausbreitete.
    »Nein, mein Mann ist geritten. Und er ist an den Folgen eines Sturzes vom Pferd gestorben.«
    »Das tut mir leid. Wie ist das passiert?«
    »Er ist jeden Abend um einen anderen Teil der Plantation geritten, und vorgestern auf dem Rückweg ist das Pferd wahrscheinlich abgerutscht - auf einem engen, steinigen Pfad. Gilles ist einen Felshang hundert Meter tief hinuntergestürzt, nicht weit von der Gorge de la Falaise.«
    »War er allein?«
    »Ja. Aber Bananenarbeiter haben den Schrei gehört und ihn gleich gefunden. Er war wohl sofort tot.«
    Trotzdem war es nicht unbedingt ein Unfall, dachte Jacques, aber er zögerte - ganz gegen seine Art -,
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