Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
davon, hinaus ins schwarze Hügelland.
    Sie hatte bereits eine erhebliches Stück mit beschwerlichen Schritten zurückgelegt, da verstummte der Streit in ihrem Rücken und ein Mädchen rief ihr hinterher: »Dein Wunsch! Du hast Deinen Wunsch vergessen!«
    Die unheimliche Fremde drehte sich nicht um, ging einfach weiter und verschwand in der Nacht. Und doch war keines unter den Kindern, das ihre letzten Worte nicht vernahm, als wispere sie leise in jedes Ohr:
    »Wenn ihr ihn trefft, dann tauft Herodes.«

ERSTER TEIL
    Das Rattennest

    KAPITEL 1
    Manche sagen, Eltern träumen die Sünden ihrer Kinder. Doch wessen Sünden träume dann ich?
    Damals, in der letzten Nacht vor meiner Ankunft in Hameln, erwachte ich naß von Schweiß, frierend in einem harten, fremden Bett voll von knisterndem, wimmelndem Leben. Ich träumte oft in jenen Jahren, doch nicht so häufig wie heute, und mochten damals die nächtlichen Bilder Vorboten der kommenden Ereignisse sein, hämische Krähen des Schlafs, so sind es heute die Erinnerungen, die mich martern, mich zurückzerren in die Vergangenheit, zurück an jenen Ort, in den Schlamm und in die Nässe. Zurück zu den Kindern.
    Der letzte Tag meiner Reise begann früh, denn ich fand keinen Schlaf mehr, nachdem mich die Alpdrücke zurück ins Wachsein entließen. Ich schnürte mein Bündel, stieg hinab in den finsteren Schankraum des Gasthofs und legte dem Wirt einige Münzen vor die Küchentür. Draußen traf ich den Stallknecht, der gleichfalls früh auf den Beinen war. Auch ihn entlohnte ich reichlich, so daß er eilte, mir mein Pferd zu satteln.
    Die Nacht lag noch schwarz und schwer auf dem Land, als ich das Gasthaus hinter mir ließ und entlang eines schmalen Hohlwegs gen Hameln ritt. Die Luft war kühl und atemlos, die Erinnerung an den steten Regen der vergangenen Tage wogte als herber Duft zwischen den Fichten. Kein Stern stand am Himmel, noch immer mußten die schweren, satten Wolken über den Septemberwäldern schweben, und der Weg vor mir schien wie ein seltsamer Gang durch leblose Finsternis. Kein Luftzug wehte, kein Zweig rieb sich am Holz anderer Äste, allein ein dürres Rinnsal rauschte in der Tiefe eines Talgrundes. Ihm folgte ich eine Weile, geführt allein vom Instinkt des Pferdes, denn meine müden Augen waren nutzlos im dräuenden Nachtdunkel. Es war, als schwebte ich auf dem Rücken des Tieres durch ein geheimnisvolles Nichts, und doch machte mir die scheinbare Leere, die Lautlosigkeit der Hügel und Täler keine angst. Ich war froh, mich im Sattel einem dumpfen Halbschlaf hingeben zu können, ungestört von allem, was außerhalb meiner Gedanken geschah.
    So ritt ich träumend dahin, wohl einige Stunden lang, mal in, mal außerhalb der Wälder, bis der Morgen graute – und das tat er ganz wortwörtlich, denn nichts als ein fahles Grau war es, das sich träge um die Herbstgerippe der Eichen auf öden Hügelkuppen legte. Tatsächlich sollte das knochenfarbene Zwielicht auch den Tag über nicht weichen, und ganz wie ich es vorhergesehen hatte, stellte sich bald von neuem der Regen ein und ließ die Hufe meines Rappen tief in schwarzem Schlamm versinken. Ich traf nicht eine Menschenseele während der letzten Stunden meines Ritts, nicht, bis meine trüben Augen gegen Mittag auf die Weserauen blickten und die Stadt aus dem Dämmerlicht kroch wie ein todgeweihtes Tier.
    Aus der Ferne schien mir Hameln stumm und schweigend, ein merkwürdiger, kauernder Ort unter einem Himmel wie aus Blei gegossen. Hinter den Dächern zog sich das farblose Band des Flusses von Norden nach Süden, und mir, der ich von Osten kam, schien es zur Rechten wie zur Linken in weiter Biegung hinter den Hügelflanken zu verschwinden. Regen trieb in wogenden Schüben über das Land, ließ mal mehr, mal weniger von der Stadt erkennen. Kurz waren die Giebel in all ihrer kantigen Klarheit zu sehen, dann wieder verschwanden sie hinter Wolken aus eisiger Nässe.
    Mein Weg führte entlang einer alten Handelsstraße zwischen zwei aufstrebenden Hängen einher, jener links nicht allzu hoch und nur mit starrem Gras bewachsen, der rechte von schwarzem, dichten Wald bedeckt. Schnurgerade verlief die Straße zur Stadt hinunter, und als ich meinen Blick noch einmal auf den Berg zur Rechten wandte, erkannte ich in einiger Entfernung an seiner Flanke einen Richtplatz, ein kahler Erdhügel, auf dessen Kuppe sich ein Holzgerüst erhob wie ein hoher Tisch. Keine Menschenseele war zu sehen.
    Weiter ritt ich, die Stadt kam
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher