Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
fiebernde Menge zu drängen, die sich durch nichts von der feurigen Hinrichtung ablenken ließ. Ich erkannte den Mann; es war jener, der am Baum vor der Stadt zurückgeblieben war und im Gras nach etwas gesucht hatte.
    Schließlich gelang es ihm, sich zu uns durchzuschieben. »Seht, Meister Einhard, was am Fuß der Esche lag«, stieß er atemlos hervor.
    Der Scheiterhaufen brannte nun stärker, einige Zuschauer drängten ein, zwei Schritte zurück, um den Hitzewogen zu entgehen. Der Unglückliche an seinem Pfahl verzog nun gequält das Gesicht, doch löste sich kein Laut aus seiner Kehle. Der Schmerz mußte kaum noch zu ertragen sein, wenngleich seine Kleidung noch kein Feuer fing, und selbst sein Haar bislang unversehrt geblieben war. Man hatte das Holz so aufgeschichtet, daß Pfahl und Opfer zuletzt verbrannten.
    Einhard nahm den Lederbeutel mit gerunzelter Stirn entgegen. Der Beutel war kaum größer als seine Hand und schien der schlaffen Form nach leer zu sein. Einhard drehte ihn um und schüttelte den vermeintlichen Inhalt auf seine Handfläche. Zwei helle Kugeln rollten hervor, kaum größer als Kirschen. Er nahm eine zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sie leicht. Sie ließ sich ohne weiteres verformen.
    »Was ist das?« fragte er seinen Helfershelfer.
    Der Mann hob die Schultern.
    »Verzeiht«, sagte ich, nicht ganz sicher, ob das Wort so hämisch klang, wie ich es meinte, »doch wenn Ihr mir einen Blick erlaubt, vermag ich Euch vielleicht eine Antwort zu geben.« Mir war mit einem Mal eine üble Ahnung gekommen, eine diffuse Erinnerung an etwas, das ich während meiner Zeit an der Klosterschule gehört hatte. Plötzlich spürte ich den unbestimmten Drang, mein Pferd herumzureißen und so weit wie möglich zu fliehen. Statt dessen aber sprang ich aus dem Sattel und machte einen Schritt auf Einhard zu.
    Vor uns fingen Bart und Haar des Ketzers Feuer. Er schüttelte sich wie in einem irren Tanz zu Ehren seiner Götzen. Sein Gesicht verschwand hinter einer gleißenden Wolke aus Glut.
    Kein Schrei, nicht ein einziger.
    Nur die Menge brüllte vor Begeisterung.
    Einhard zögerte einen Augenblick, dann reichte er mir mit zweifelndem Blick eine der beiden Kugeln.
    Möglicherweise hatte ihn meine Unruhe angesteckt; vielleicht aber hoffte er auch nur auf mein Scheitern.
    Die Kugel bestand aus Wachs oder Talg. In ihrem Inneren schien es einen dunklen Kern zu geben. Mit einem Fingernagel ritzte ich die weiche Masse, bis ein paar Körner eines grauen Pulvers aus der Öffnung rieselten. Ich roch daran, wagte aber nicht, es mit der Zungenspitze zu berühren, aus Angst, es sei ein Gift.
    »Nun?« fragte Einhard und grinste überheblich.
    Ich zögerte mit einer Antwort, dann sagte ich: »Ich bin nicht sicher …«
    Einhard schüttelte den Kopf, dann schleuderte er den leeren Beutel und die zweite Kugel achtlos in den knisternden Scheiterhaufen.
    Nur einen Moment später zerriß ein gleißender Blitz an jener Stelle das Zwielicht, wo die Kugel ins Feuer gefallen war. Ein Donnern übertönte die jubelnde Menge, Funken stoben wild in alle Richtungen, und Flammen griffen wie höllische Arme nach den Umstehenden.
    »Lauft!« schrie ich so laut ich konnte, sprang selbst auf den Rücken meines Pferdes und hatte alle Mühe, das aufgebrachte Tier zu bändigen.
    Ungläubiges Entsetzen war Einhard ins Gesicht geschrieben. Er stand da wie versteinert und starrte ins Feuer, während die Erregung der Menschen um uns herum mit einem Mal in Angst umschlug. Sie begriffen nicht, was geschehen war. Einige dachten wohl an ein Zeichen des Herren, andere fürchteten die Strafe der Hölle. Sie alle jedoch ahnten, daß ihnen eine Gefahr drohte, wenn sie noch länger hier stehenblieben. Panik brach aus, als sich die vorderen Reihen nach hinten wälzten.
    Da, endlich, begann der brennende Ketzer zu schreien.
    Einhards Männer schlossen sich den Flüchtenden an, die nun in alle Richtungen davonstürzten. Allein er selbst blieb stehen und blickte fassungslos auf den lodernden Mann, der hohe, schrille Töne ausstieß wie ein Kalb, wenn es geschlachtet wird. Der Körper des Ketzers war eine einzige, zuckende Fackel, und noch immer lebte er.
    »Er hat sie geschluckt!« schrie ich Einhard über den tosenden Lärm hinweg zu. »Er hat die verfluchten Kugeln geschluckt, wer weiß wie viele.«
    Der Oberste der bischöflichen Schergen drehte sich zu mir um, und plötzlich schien neue Klarheit in sein Denken zu fließen. Er geriet in Bewegung und rannte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher