Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Raecher

Titel: Der Raecher
Autoren: Frederick Forsyth
Vom Netzwerk:
Beschäftigung nachzugehen. Klienten und Nachbarn akzeptierten, dass er hin und wieder zum Angeln fuhr, nicht ahnend, dass er in New York City unter einem anderen Namen eine kleine Wohnung gemietet hatte.
    Mit schmerzenden Beinen quälte er sich über die letzten fünfhundert Meter bis zur Abzweigung in den Chesapeake Drive am Südende der Stadt. Dort wohnte er, und an der Ecke endete sein sich selbst auferlegtes Martyrium. Er verlangsamte seine Schritte, blieb stehen, ließ den Kopf hängen und sog, an einen Baum gelehnt, Sauerstoff in seine Lungen. Zwei Stunden und sechsunddreißig Minuten. Weit von seiner Bestzeit entfernt. Wahrscheinlich gab es im Umkreis von hundert Meilen niemanden, der mit einundfünfzig noch an diese Zeit herankam, aber das bedeutete ihm nichts. Auch wenn er es den Nachbarn, die ihn anfeuerten und belächelten, niemals würde erklären können: Ihm kam es nur darauf an, mit dem einen Schmerz den anderen zu bekämpfen, den immer währenden Schmerz, den,
der niemals verging, den Schmerz über den Verlust eines Kindes, den Verlust einer Liebe, den Verlust von allem.
    Der Läufer bog in seine Straße ein und legte die letzten zweihundert Meter im Schritttempo zurück. Vor sich sah er den Zeitungsjungen einen dicken Packen auf seine Veranda werfen. Der Junge winkte im Vorbeiradeln, und Cal Dexter winkte zurück.
    Später würde er sich auf seinen Motorroller schwingen und seinen Pick-up holen, mit dem Roller hinten auf der Ladefläche wieder nach Hause fahren und unterwegs das Rennrad auflesen. Vorher brauchte er eine Dusche, ein paar Energieriegel und frisch gepressten Orangensaft.
    Auf der Veranda angekommen, hob er den Packen Zeitungen auf, öffnete ihn und sah ihn durch. Wie erwartet, enthielt er das Lokalblatt, eine Zeitung aus Washington, die Sonntagsausgabe der New York Times sowie eine Zeitschrift.
    Calvin Dexter, der drahtige, rotblonde, freundlich lächelnde Anwalt aus Pennington, New Jersey, war nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren worden.
    Er wurde in einem kakerlaken- und rattenverseuchten Slum in Newark gezeugt und kam im Januar 1950 als Sohn eines Bauarbeiters und einer Kellnerin vom örtlichen Diner zur Welt. Die Moral der Zeit zwang seine Eltern zu heiraten, als ein Stelldichein in einem Tanzlokal und ein paar Gläser zu viel dazu führten, dass seine Mutter mit ihm schwanger wurde. Am Anfang wusste er nichts davon, denn Kinder wissen nie, wie und durch wen sie hierher gekommen sind. Sie müssen es herausfinden, und das kann sehr schmerzlich sein.
    Sein Vater war für seine Verhältnisse kein schlechter Mensch. Nach Pearl Harbor hatte er sich freiwillig zum Militär gemeldet, war aber als qualifizierter Bauarbeiter an der Heimatfront im Raum New Jersey dringender gebraucht worden, wo im Zuge der Kriegsanstrengungen Tausende von neuen Fabriken, Werften und Verwaltungsgebäuden entstanden.
    Er war ein harter Bursche und flink mit den Fäusten, in vielen
Arbeiterjobs die einzige Chance, sich Recht zu verschaffen. Dennoch versuchte er, auf dem Pfad der Tugend zu bleiben, lieferte die Lohntüte ungeöffnet zu Hause ab und hielt seinen Sohn dazu an, das Sternenbanner, die Verfassung und Joe di Maggio zu lieben.
    Doch nach dem Ende des Koreakriegs schwanden die Jobs. Nur die Industriekrise blieb, und die Gewerkschaften waren fest in Mafiahand.
    Calvin war fünf, als seine Mutter die Familie verließ. Er war zu jung, um die Gründe dafür zu verstehen. Er wusste nicht, dass seine Eltern eine lieblose Ehe geführt hatten, und ertrug ihr Streiten mit dem stoischen Gleichmut von Kindern, die nichts anderes kannten. Er wusste nichts von dem Handelsvertreter, der ihr das Blaue vom Himmel und schönere Kleider versprochen hatte. Ihm wurde nur gesagt, dass sie »fortgegangen« sei.
    Er nahm es einfach hin, dass sein Vater nun jeden Abend zu Hause saß, statt nach der Arbeit ein paar Bierchen zu trinken, ihn versorgte und deprimiert in den Fernseher stierte. Erst im Teenageralter sollte er erfahren, dass seine Mutter zurückkommen wollte, weil der Vertreter sie sitzen gelassen hatte, von seinem verbitterten Vater aber eine schroffe Abfuhr bekam.
    Er war sieben, als sein Vater in der näheren Umgebung keine Jobs mehr fand und auf die Idee kam, ihre schäbige Wohnung in Newark aufzugeben und sich einen gebrauchten Wohnwagen zuzulegen. Darin verbrachte er zehn Jahre seiner Jugend.
    Vater und Sohn zogen von Baustelle zu Baustelle, und der verwahrloste Junge besuchte die Schulen am Ort, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher