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Der Prophet

Titel: Der Prophet
Autoren: Khalil Gibran
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von der Freiheit als einem Ziel und einer Erfüllung zu sprechen.
     
    Wahrhaft frei werdet ihr nicht dann sein, wenn eure Tage ohne eine Sorge und eure Nächte ohne ein Bedürfnis oder einen Kummer
     sind,
    Sondern vielmehr wenn diese Dinge euer Leben umfassen und ihr euch dennoch nackt und ungebunden über sie erhebt.
    |49| Und wie solltet ihr euch über eure Tage und Nächte erheben, außer ihr zerbrecht die Ketten, die ihr im Morgengrau eurer Vernunft
     um eure Mittagsstunde geschlungen habt?
    Was ihr Freiheit nennt, ist in Wahrheit die stärkste dieser Ketten, und mögen ihre Glieder auch in der Sonne funkeln und eure
     Augen blenden.
     
    Und was ist es, das ihr um eurer Freiheit willen abzuwerfen trachtet, denn anderes als Teile eurer selbst?
    Ist es ein ungerechtes Gesetz, das ihr abschaffen möchtet, so wurde euch dieses Gesetz durch eure eigene Hand auf die Stirn
     geschrieben.
    Ihr könnt es nicht tilgen, indem ihr eure Gesetzbücher verbrennt, noch indem ihr die Stirn eurer Richter wascht, und würdet
     ihr auch die See über sie ergießen.
    Und ist es ein Gewaltherrscher, den ihr entthronen möchtet, sorgt erst dafür, dass der Thron zerstört wird, den ihr ihm in
     eurem Inneren erbaut habt.
    Denn wie kann ein Tyrann die Freien und die Stolzen beherrschen, außer es ist ein Sklaventum in ihrer Freiheit und eine Beschämung
     in ihrem Stolz?
    Und wenn es eine Sorge ist, die ihr abschütteln möchtet, so wurde euch diese Sorge nicht aufgezwungen, sondern ihr habt sie
     euch selbst erwählt.
    Und wenn es eine Furcht ist, die ihr zerstreuen |50| möchtet, so sitzt diese Furcht in eurem Herzen und nicht in der Hand des Gefürchteten.
     
    Wahrlich, alle Dinge ziehen durch eure Seele in beständiger Umarmung: das Erwünschte und das Gefürchtete, das Verabscheute
     und das Geliebte, das Angestrebte und dasjenige, dem ihr entrinnen möchtet.
    Diese Dinge bewegen sich in euch als untrennbare Paare von Licht und Schatten.
    Und wenn ein Schatten verblasst und verschwindet, wird das verbleibende Licht zum Schatten eines anderen Lichtes.
    Und ebenso wird eure Freiheit, sobald sie ihre Fesseln verliert, ihrerseits zur Fessel einer größeren Freiheit.

|51|
Von der Vernunft und der Leidenschaft
    Und erneut sprach die Priesterin und sagte: Sprich zu uns von der Vernunft und der Leidenschaft.
    Und er antwortete und sagte:
    Eure Seele ist häufig ein Schlachtfeld, auf dem eure Vernunft und eure Urteilskraft eure Leidenschaft und euer Verlangen bekämpfen.
    Könnte ich doch nur der Friedensstifter in eurer Seele sein, der den Missklang und den Widerspruch eurer Elemente in Einheit
     und Harmonie überführte!
    Doch wie sollte es mir gelingen, ehe ihr nicht selbst die Schlichter seid, ja, die Freunde all eurer Elemente?
     
    Eure Vernunft und eure Leidenschaft sind das Ruder und die Segel eures Seelen-Schiffes.
    Büßt ihr Segel oder Ruder ein, werdet ihr zu einem Spielball des Windes, oder aber ihr schaukelt antriebslos auf den Wellen.
    Denn die Vernunft ist, herrscht sie allein, eine hemmende Kraft; und die Leidenschaft ist, unbeaufsichtigt, eine Flamme, die
     an sich selbst verbrennt.
    Lasst deshalb eure Seele eure Vernunft zu den Gipfeln |52| der Leidenschaft steigern, dass sie zu Begeisterung werde;
    Und lasst sie eure Leidenschaft durch die Vernunft lenken, dass eure Leidenschaft ihre tägliche Auferstehung erlebe und wie
     der Phönix der eigenen Asche entsteige.
     
    Ich wollte, ihr würdet eure Urteilskraft und euer Verlangen gerade so wie zwei geliebte Gäste betrachten.
    Ihr würdet doch gewiss nicht den einen Gast über den anderen stellen; denn wer den einen bevorzugt, büßt die Liebe und das
     Vertrauen beider ein.
     
    Sitzt ihr im Hügelland, im kühlen Schatten der Silberpappeln, und genießt den Frieden und die Heiterkeit ferner Felder und
     Wiesen – dann lasst euer Herz lautlos sagen: »Gott ruht in der Vernunft.«
    Und wenn der Sturm kommt, und der gewaltige Wind erschüttert den Wald, und Donner und Blitz verkünden die Allmacht des Himmels
     – dann lasst euer Herz ehrfürchtig sagen: »Gott regt sich in der Leidenschaft.«
    Und da ihr ein Hauch in Gottes Allheit seid und ein Blatt von Gottes Wald, solltet auch ihr in der Vernunft ruhen und euch
     in der Leidenschaft regen.

|53|
Vom Schmerz
    Und eine Frau sprach und sagte: Erzähle uns vom Schmerz.
    Und er sagte:
    Euer Schmerz ist das Aufbrechen der Schale, die euer Verstehen umschließt.
    Ebenso wie der Stein des Pfirsichs aufbrechen muss,
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