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Der Prophet

Titel: Der Prophet
Autoren: Khalil Gibran
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gebunden.
    Das, was ihr wirklich seid, wohnt über allen Gipfeln und wandert mit dem Wind.
    Es ist kein Geschöpf, das Wärme suchend in die Sonne kriecht oder furchtsam Löcher in die Dunkelheit gräbt,
    Sondern etwas Freies, ein Geist, der die Erde umhüllt und im Äther umherschweift.
    |92| Sind diese Worte dunkel, versucht nicht, sie zu erhellen.
    Dunkel und nebelhaft ist der Anfang aller Dinge, nicht aber ihr Ende,
    Und gern würde ich euch als ein Anfang im Gedächtnis bleiben.
    Das Leben und alles, was lebt, wird im Nebel empfangen und nicht im Kristall.
    Und wer weiß, ob ein Kristall nicht verhärteter Nebel ist?
     
    Daran mögt ihr euch erinnern, wenn ihr an mich zurückdenkt:
    Was euch wie das Schwächste und das Verwirrteste in euch erscheint, ist in Wahrheit das Stärkste und das Entschlossenste.
    War es nicht euer Atem, der das Gerüst eurer Knochen errichtete und hart werden ließ?
    Und war es nicht ein Traum, den keiner von euch sich erinnert, je geträumt zu haben, der eure Stadt erbaute und alles schuf,
     was in ihr ist?
    Könntet ihr nur die Gezeiten dieses Atems sehen, würde alles andere verschwinden,
    Und wenn ihr das Flüstern des Traums vernehmen könntet, würdet ihr kein anderes Geräusch mehr hören.
     
    |93| Aber ihr seht nicht und hört nicht, und es ist gut so.
    Den Schleier, der eure Augen verhüllt, werden dieselben Hände heben, die ihn einst woben,
    Und den Lehm, der eure Ohren verstopft, werden die Finger durchstoßen, die ihn geknetet.
    Und ihr werdet sehen,
    Und ihr werdet hören.
    Dennoch werdet ihr nicht bedauern, die Blindheit gekannt zu haben noch euch beklagen, taub gewesen zu sein.
    Denn an diesem Tag werdet ihr den verborgenen Sinn aller Dinge wissen,
    Und ihr werdet die Dunkelheit nicht weniger segnen als das Licht.
     
    Nachdem er so gesprochen hatte, blickte er sich um, und er sah den Lotsen seines Schiffes am Steuer stehen und bald auf die
     schwellenden Segel, bald in die Ferne starren.
    Und er sagte:
    Geduldig, übergeduldig ist der Kapitän meines Schiffes.
    Der Wind weht, und ruhelos sind die Segel;
    Selbst das Ruder bittet um Weisung;
    Dennoch wartet mein Kapitän ruhig auf mein Verstummen.
    Und diese meine Matrosen, die den Chorgesang der |94| größeren See gehört haben, auch sie haben mich geduldig angehört.
    Jetzt sollen sie nicht länger warten.
    Ich bin bereit.
    Der Bach hat das Meer erreicht, und wieder schließt die große Mutter den Sohn an ihre Brust.
     
    Lebt denn wohl, Menschen von Orfalîs.
    Dieser Tag ist zu Ende.
    Er schließt sich um uns, so wie die Seerose sich um ihr eigenes Morgen schließt.
    Was uns hier gegeben wurde, werden wir bewahren,
    Und wenn es nicht genügt, dann müssen wir noch einmal zusammenkommen und gemeinsam dem Gebenden die Hände entgegenstrecken.
    Vergesst nicht: Ich werde zu euch zurückkommen.
    Eine kleine Weile, dann wird meine Sehnsucht Staub und Schaum für einen neuen Körper sammeln.
    Eine kleine Weile, ein Augenblick der Rast im Wind, und eine andere Frau wird mich gebären.
     
    Lebt wohl, ihr und die Jugend, die ich mit euch verbracht habe.
    Erst gestern sind wir uns im Traum begegnet.
    Ihr habt für mich in meiner Einsamkeit gesungen, und ich habe aus eurer Sehnsucht einen Turm in den Himmel gebaut.
    |95| Doch jetzt ist unser Schlaf vorüber und unser Traum vorbei, und es ist nicht mehr Morgen.
    Der Mittag ist über uns gekommen, und unser halbes Wachen ist zum vollen Tag geworden, und nun heißt es Abschied nehmen.
    Sollten wir uns im Dämmer der Erinnerung ein weiteres Mal begegnen, werden wir wieder miteinander sprechen, und ihr werdet
     mir ein tieferes Lied singen.
    Und sollten sich unsere Hände in einem anderen Traum begegnen, werden wir einen weiteren Turm in den Himmel erbauen.
     
    Mit diesen Worten gab er den Männern ein Zeichen, und prompt lichteten sie den Anker und machten die Leinen des Schiffes los,
     und sie entfernten sich ostwärts.
    Und ein Aufschrei entrang sich den Menschen wie einem einzigen Herzen und stieg in die dunkle Luft und hallte hinaus über
     die See wie ein mächtiger Posaunenstoß.
    Nur al-Mitra blieb stumm und starrte dem Schiff nach, bis es im Nebel verschwunden war.
    Und als alles Volk sich zerstreut hatte, stand sie noch immer allein auf dem Uferdamm und wiederholte im Herzen seine Worte:
     
    »Eine kleine Weile, ein Augenblick der Rast im Wind, und eine andere Frau wird mich gebären.«

Informationen zum Buch
    Eine Stadt im Orient: Der Prophet al-Mustafa erwartet das
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