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Der Prophet

Titel: Der Prophet
Autoren: Khalil Gibran
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sehen, noch das Lied, das ihr hören möchtet,
    Sondern ein Bild, das ihr seht, obwohl ihr die Augen verschließt, und ein Lied, das ihr hört, obwohl ihr euch die Ohren verstopft.
    Sie ist weder der Saft unter der knorrigen Borke noch der Flügel eines Krallenbewehrten,
    Sondern ein ewig blühender Garten und ein Schwarm ewig fliegender Engel.
     
    Menschen von Orfalîs, die Schönheit ist das Leben, wenn es sein heiliges Antlitz entschleiert.
    Doch ihr selbst seid das Leben, und ihr selbst seid der Schleier.
    Schönheit ist die Ewigkeit, die sich in einem Spiegel betrachtet.
    Doch ihr selbst seid die Ewigkeit, und ihr selbst seid der Spiegel.

|78|
Von der Religion
    Und ein alter Priester sagte: Sprich zu uns von der Religion.
    Und er antwortete:
    Habe ich denn heute überhaupt von etwas anderem gesprochen?
    Ist Religion nicht jegliches Handeln und Nachdenken
    Und das, was weder Handeln noch Nachdenken ist, sondern ein Erstaunen und ein Verwundern, die unaufhörlich der Seele entsteigen,
     selbst während die Hände den Stein behauen oder den Webstuhl bewegen?
    Wer kann seinen Glauben von seinen Handlungen trennen oder seine Überzeugung von dem, was er tut?
    Wer kann seine Stunden vor sich ausbreiten und sagen: »Diese ist für Gott und diese für mich; diese für meine Seele und diese
     andere für meinen Körper«?
    Alle eure Stunden sind Flügel, die von Selbst zu Selbst durch den Raum flattern.
    Wer seine Sittlichkeit nur wie ein Sonntagskleid trägt, täte besser daran, nackt zu bleiben.
    |79| Der Wind und die Sonne werden schon keine Löcher in seine Haut reißen.
    Und wer sein Verhalten den Geboten der Sitte unterwirft, sperrt seine Lerche in einen Käfig.
    Der freieste Gesang kommt nicht durch Gitter und Drähte.
    Und der, dem Verehrung ein Fenster ist, das sich öffnen, aber auch schließen lässt, ist noch niemals im Haus seiner Seele
     gewesen, deren Fenster von Morgenrot zu Morgenrot reichen.
     
    Euer Alltag ist euer Tempel und eure Religion.
    Wann immer ihr ihn betretet, nehmt alles, was euer ist, mit.
    Nehmt den Pflug und die Esse und den Schlägel und die Laute,
    Die Dinge, die ihr aus Notwendigkeit oder zu eurer Freude geschaffen habt.
    Denn im Tagtraum könnt ihr nicht über eure Erfolge hinausgelangen noch tiefer als eure Niederlagen stürzen.
    Und nehmt alle Menschen mit euch mit:
    Denn im Gebet könnt ihr euch nicht höher als ihre Hoffnungen aufschwingen noch euch tiefer erniedrigen als ihre Verzweiflung.
     
    |80| Und wenn ihr Gott erkennen wollt, seid nicht deswegen Entwirrer von Rätseln.
    Blickt euch lieber um, und ihr werdet Ihn mit euren Kindern spielen sehen.
    Und blickt in den Himmelsraum: Ihr werdet Ihn in der Wolke wandeln, im Blitz Seine Arme ausstrecken und im Regen herabsteigen
     sehen.
    Ihr werdet Ihn in Blumen lächeln sehen und dann emporsteigen und aus Baumkronen winken.

|81|
Vom Tod
    Dann sprach al-Mitra und sagte: Jetzt möchten wir vom Tod erfahren.
    Und er sagte:
    Ihr fragt nach dem Geheimnis des Todes.
    Aber wie könntet ihr es jemals begreifen, außer ihr sucht es im Herzen des Lebens?
    Die nächtliche Eule kann mit ihren tagblinden Augen das Mysterium des Lichts nicht ergründen.
    Wollt ihr wirklich den Geist des Todes erkennen, öffnet euer Herz weit für den Körper des Lebens.
    Denn eins sind Leben und Tod, so wie der Fluss und das Meer eins sind.
     
    Auf dem Grund eurer Hoffnungen und Wünsche ruht euer wortloses Wissen vom Jenseits.
    Und wie Samen, die unter der Schneedecke träumen, träumen eure Herzen vom Frühling.
    Vertraut diesen Träumen, denn in ihnen verbirgt sich das Tor der Unendlichkeit.
     
    |82| Eure Furcht vor dem Tod ist nichts als das Zittern des Hirten, der vor dem König steht und dessen ehrende Berührung erwartet.
    Ist der Hirte hinter seinem Zittern nicht glücklich darüber, dass er das Zeichen des Königs empfangen soll?
    Und ist er sich nicht dennoch weit mehr seines Zitterns bewusst?
     
    Denn was bedeutet sterben schon anderes, als nackt im Wind zu stehen und in die Sonne zu schmelzen?
    Und was bedeutet es, nicht mehr zu atmen, wenn nicht den Atem von seinem rastlosen Ebben und Fluten zu lösen, damit er emporsteigen,
     sich ausdehnen und unbehindert zu Gott streben kann?
     
    Erst wenn ihr aus dem Fluss des Schweigens getrunken habt, werdet ihr wirklich singen.
    Und wenn ihr den Gipfel des Berges erreicht habt, dann wird euer Aufstieg beginnen.
    Und wenn euer Körper der Erde anheim fällt, dann werdet ihr wahrhaftig tanzen.

|83|
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