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Der Prophet

Titel: Der Prophet
Autoren: Khalil Gibran
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Elle.
    Und wer den Beleidiger geißeln will, der sehe auch auf den Geist des Beleidigten.
    Und will einer von euch im Namen der Gerechtigkeit strafen und die Axt an den Baum des Bösen anlegen, dann sehe er erst auf
     dessen Wurzeln;
    Und er wird die Wurzeln des Guten und des Bösen, des Frucht bringenden und des Unfruchtbaren sämtlich im schweigenden Herzen
     der Erde ineinander verschlungen finden.
    Und ihr Richter, die ihr gerecht sein wollt,
    Welches Urteil sprecht ihr über den, der zwar ehrlich im Fleisch, aber im Geiste ein Dieb ist?
    Welche Strafe verhängt ihr über den, der im Fleisch mordet, aber seinerseits im Geist ermordet wird?
    Und wie richtet ihr über den, der in seinen Handlungen ein Betrüger und Bedrücker,
    Aber zugleich auch enttäuscht und gekränkt ist?
     
    Und wie wollt ihr jene bestrafen, deren Reue schon größer ist als ihre Vergehen?
    Ist Reue denn nicht gerade die Buße, die jenes Gesetz verhängt, dem ihr zu dienen versucht?
    Doch Reue könnt ihr keinem Unschuldigen aufzwingen |44| und ebenso keinem Schuldigen von der Seele nehmen.
    Ungebeten schleicht sie sich des Nachts ein, damit die Menschen erwachen und den Blick auf sich selbst richten.
    Und ihr, die ihr das Recht erkennen wollt, wie soll euch dies je gelingen, wenn ihr nicht alle Taten im hellsten Licht betrachtet?
    Erst dann werdet ihr sehen, dass der Aufrechte und der Gestrauchelte ein und derselbe Mensch sind, der in der Dämmerung zwischen
     der Nacht seines Zwergseins und dem Tag seiner Göttlichkeit steht,
    Und dass der Schlussstein des Tempels nicht höher ist als der unterste Stein seines Fundaments.

|45|
Von den Gesetzen
    Dann sagte ein Anwalt: Aber was ist mit unseren Gesetzen, Meister?
    Und er antwortete:
    Es bereitet euch Freude, Gesetze aufzustellen,
    Aber noch größere Freude bereitet es euch, sie zu brechen.
    Wie spielende Kinder am Meeresufer, die mit Ausdauer Sandburgen bauen und sie dann lachend zerstören.
    Aber während ihr eure Sandburgen baut, trägt das Meer weiteren Sand an den Strand,
    Und wenn ihr sie einreißt, lacht der Ozean mit euch.
    Wahrlich, der Ozean lacht immer mit den Unschuldigen.
    Doch was ist mit denen, für die das Leben kein Ozean ist und menschliche Gesetze keine Sandburgen,
    Sondern für die das Leben ein Fels ist und das Gesetz ein Meißel, mit dem sie es zu ihrem Bild gestalten möchten?
    Was ist mit dem Krüppel, der den Tänzer verabscheut?
    |46| Was ist mit dem Ochsen, der sein Joch liebt und den Hirsch und das Reh des Waldes für hauslose Vagabunden erachtet?
    Was ist mit der alten Schlange, die ihre Haut nicht mehr abwerfen kann und alle anderen schamlos und nackt nennt?
    Und mit dem, der als erster zum Hochzeitsmahl kommt und sich dann, übersättigt und müde, mit den Worten entfernt, jedes Fest
     sei ein Frevel und jeder Feiernde ein Gesetzesbrecher?
     
    Was soll ich von all diesen sagen außer, dass auch sie im Sonnenlicht stehen, aber mit dem Rücken zur Sonne?
    Sie sehen nur ihren eigenen Schatten, und ihr Schatten ist ihr Gesetz.
    Und was ist die Sonne für sie mehr als eine Schattenwerferin?
    Und was ist die Befolgung des Gesetzes für sie anderes, als sich niederzubeugen und ihren eigenen Schatten auf dem Boden nachzuzeichnen?
    Ihr aber, die ihr mit dem Gesicht in der Sonne wandelt, welche Zeichen im Staub könnten euch schon aufhalten?
    Ihr Gefährten des Windes, welche Wetterfahne sollte wohl euren Kurs bestimmen?
    Welches Menschengesetz sollte euch binden, wenn ihr euer Joch zerbrecht, doch vor niemandes Kerkertür?
    |47| Welche Gesetze solltet ihr fürchten, wenn ihr tanzt, aber über niemandes Ketten stolpert?
    Und wer dürfte euch richten, wenn ihr euer Gewand von euch reißt, es aber auf niemandes Weg liegen lasst?
     
    Menschen von Orfalîs, ihr könnt die Trommel abdämpfen und die Saiten der Leier entspannen, doch wer soll der Lerche das Singen
     verbieten?

|48|
Von der Freiheit
    Und ein Redner sagte: Sprich zu uns von der Freiheit.
    Und er antwortete:
    Am Stadttor und an eurem Herdfeuer habe ich euch fußfällig eure eigene Freiheit anbeten sehen,
    Gerade so wie Sklaven sich vor einem Tyrannen erniedrigen und ihn lobpreisen, obwohl er sie niederschmettert.
    Ja, im Tempelhain und im Schatten des Burgbergs habe ich die Freiesten unter euch ihre Freiheit wie ein Joch und eine Kette
     tragen sehen.
    Und das Herz hat mir geblutet; denn frei könnt ihr nur sein, wenn euch selbst der Wunsch, nach Freiheit zu streben, zu einer
     Fessel wird und ihr aufhört,
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