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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay
Autoren: Vikram Chandra
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sie auf und schrieb statt dessen über Amir Khan. Sie schrieb über seine Filme, seine Schauspielerei, und als sie fertig war, schloß sie das Tagebuch ab und schob es unter die Matratze. Dann schlief sie ein und träumte nie wieder von Daadi.

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    Mere Sahiba

    D ie melodische Lautsprecherstimme fragte: »Mere sahiba, kaun jaane gun tere?« 418 Sartaj hatte keine Antwort auf diese Frage. Er saß mit gekreuzten Beinen auf einer Terrasse des Goldenen Tempels, am Rand des Parkarma 479 . Rechts von ihm stand der Schrein des Baba Deep Singh 040 , und weiter vorn ließ die Morgensonne den Harmandir Sahib in einem zarten Rotgold aufleuchten. Sartaj und Ma waren pünktlich um drei am Tor gewesen, sie waren eingetreten und hatten sich die Prozession angesehen, mit der das Guru Granth Sahib über das Wasser an seinen Platz getragen wurde. Sartaj hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt, er hatte seine Schulter unter die Sänfte geschoben und einige Sekunden lang das heilige Buch tragen geholfen. Dann war er zu Ma zurückgekehrt, voller Sehnsucht nach der Begeisterung und der Gewißheit, die ihn früher auf diesem heiligen Boden erfüllt hatten. Ma und er saßen nebeneinander, die Sonne stieg höher, auf dem Parkarma strömten Menschen vorüber, und der Sänger stellte seine Frage.
    Sartaj und Ma waren am Tag zuvor in Amritsar angekommen. Ma war sehr müde gewesen, als sie beim Sohn ihres Mausa-ji 409 eintrafen, und sie waren nach einem langen Abendessen mit vielen Cousins und Cousinen, Tanten und anderen, fast vergessen Verwandten spät zu Bett gegangen. Trotzdem hatte sie Sartaj gebeten, den Wecker auf halb drei zu stellen, und noch im Dunkeln waren sie zum Harmandir Sahib aufgebrochen. Nun wiegte sie sich hin und her, die Hände im Schoß gefaltet, und ihre Lippen bewegten sich.
    »Hast du Hunger, Ma?«
    »Nein, Beta. Aber hol du dir doch was.«
    »Nein, nein, schon okay.« Sartaj war okay, mehr oder weniger, aber er machte sich Sorgen um Ma. Sie hatte sich in ihre eigene Welt der Erinnerung, der Trauer und des Gebets zurückgezogen und war sehr weit weg. In ihren Augen standen Tränen, und immer wieder tupfte sie sich mit ihrem Chunni die Mundwinkel. Sie betete so leise, daß Sartaj nicht erkennen konnte, welches Shabad 575 sie sprach. Er wußte nicht, um wen oder was sie trauerte oder wie er ihr helfen konnte. »Denkst du an Papa-ji?« fragte er.
    Sie hob langsam den Kopf und wandte sich ihm zu. Ihre braunen Augen wirkten riesig und blickten erstaunt, und plötzlich kam es Sartaj vor, als hätte er eine Unbekannte vor sich.
    »Ja«, erwiderte sie, »an Papa-ji.« Aber sie sagte ihm nicht alles, es gab Dinge, über die sie nicht sprach. Das wußte Sartaj, und er wurde verlegen, als wäre er in einen dunklen Raum eingedrungen, den er nicht sehen sollte. »Ich hab Hunger«, sagte er. »Bleibst du hier sitzen?«
    »Ja, geh nur.«
    Er ließ sie zurück und wanderte auf dem Parkarma um die gekräuselte Wasserfläche herum. Pilger saßen auf den Terrassen, und zwei kleine Jungen rannten vor ihm her. Ihre Mutter lief ihnen nach, faßte sie an der Schulter und führte sie zu ihrem Vater zurück. Der ältere der beiden grinste Sartaj an; vorn fehlte ihm ein Zahn. Sartaj lächelte und schlenderte weiter. Der Stein unter seinen nackten Füßen erwärmte sich. In seiner frühesten Erinnerung an den Harmandir Sahib hatte er kalte Zehen, und Papa-ji führte ihn an der Hand rasch durch das Fußbecken draußen vor der Tempelanlage. Er war die kühlen Marmorstufen hinuntergehüpft, geblendet von dem goldenen Spiegelbild im Wasser des Sarovar 561 . Er war davor schon einmal hier gewesen, als kleines Kind, aber diese Szene kam ihm jetzt wieder in den Sinn, dieser Wintermorgen, als Papa-ji und Ma ihn zwischen sich an der Hand führten. Damals hatte er die Namen der Märtyrer und der Gefallenen auf den Marmortafeln an Mauern und Säulen noch nicht lesen können. Jetzt vermochte er kaum den Blick von den Namen der Toten zu wenden, von den Listen, die indische Regimenter und trauernde Familien angebracht hatten. Eine Tafel an der Mauer unmittelbar neben dem Damm, der zum Harmandir führte, besagte, daß ein Hauptmann des 8. Jammu-und-Kashmir-Regiments, leichte Infanterie, am Siachen-Gletscher 593 gefallen war. Zwei Jahre nach seinem Tod hatte seine Witwe - auch sie im Rang eines Hauptmanns - siebenhunderteins Rupien gespendet und zu seinem Gedenken die Tafel anbringen lassen. Inzwischen war über ein Jahrzehnt vergangen, und Sartaj fragte
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