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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay
Autoren: Vikram Chandra
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sich, ob die Witwe noch trauerte. Mit Sicherheit. Er stellte sich ihren Mann vor, wie er zwischen zerklüfteten Gipfeln eine spiegelglatte Eiswand emporkletterte. Er war noch sehr jung gewesen, ein tapferer Soldat, und er war weit oberhalb jeder menschlichen Behausung in den Tod geklettert. Und auch die Frau sah Sartaj vor sich, in Uniform, das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt. Im Weitergehen weinte er.
    Weswegen weinte er? Er trauerte um den Toten, den Hauptmann, aber auch um dessen Feinde, die ihn dort oben auf dem Schlachtfeld aus Eis erwartet hatten, mit gequälten Lungen nach Luft ringend. Er weinte um all die Toten auf den Tafeln und um die Sikh-Märtyrer auf den Gemälden oben im Museum, die für ihren Glauben gefoltert, verstümmelt und getötet worden waren. Er weinte um die sechshundertvierundvierzig Toten auf der Liste in dem Museum, um die Sikhs, die 1984, als die indische Armee den Tempel stürmte, ums Leben gekommen waren, und er weinte um die Soldaten, die auf diesen Steinen von Kugeln gefällt worden waren. Er wischte sich das Gesicht und ging weiter. Schließlich hatte er den ganzen Sarovar umrundet. Ma saß noch an ihre Säule gelehnt, die Augen geschlossen. Er ging an ihr vorbei und begann eine neue Runde auf dem Parkarma. Ein alter Mann sah neugierig und freundlich zu ihm her, und Sartaj merkte, daß er wieder weinte. Niemand konnte genau errechnen, wieviel geopfert oder was gewonnen worden war, es gab nur dieses Erkennen des Verlustes, des erlittenen und verarbeiteten Schmerzes. Die Hitze stieg Sartaj in die Füße, und das Brennen war ihm willkommen. Er ging weiter. Frieden kehrte in ihn ein, während er so den Nektarteich umkreiste. Er erwartete nicht, daß Vaheguru ihm vergeben würde, sofern sein bruchstückhafter, zweifelnder Glaube an Vaheguru ihm überhaupt das Recht gab, um Vergebung zu bitten. Er wußte nicht, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch war, ob sein Handeln in Glauben oder Furcht wurzelte. Aber er hatte gehandelt, und das Gehen tat ihm weh und beruhigte ihn zugleich. Und so ging er weiter im Kreis, vorbei am Dukh Bhanjani Ber 183 , der alle Leiden heilte, und an der Plattform des Athsath-Tirath 033 . Er drehte eine weitere Runde, und bald wußte er nicht mehr, wie oft er den Sarovar schon umrundet hatte, er vergaß, daß er ging, und es gab nur noch die Bewegung seines Körpers, das schimmernde Wasser und den Gesang.
    »Sartaj?«
    Ma hatte ihn am Ellbogen gefaßt.
    »Ich bin hier herumgegangen«, sagte er. Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und führte sie in den Schatten zurück.
    »Was hast du?« fragte sie und strich seinen Kragen glatt, wieder ganz die Mutter, die besorgt die Stirn runzelte und ihren Sohn gepflegt und ordentlich sehen wollte. Die Fremde, die zuvor neben ihm gesessen hatte, war verschwunden. Verborgen vielleicht.
    »Nichts, Ma. Können wir gehen?«
    Sie gingen den Parkarma entlang zum Ausgang, doch plötzlich hielt Sartaj inne. An jenem Wintermorgen vor langer Zeit, als er mit Papa-ji und Ma hier gewesen war, hatte Papa-ji ihn aufgefordert, in dem Teich unterzutauchen. Er selbst hatte Hemd und Hose ausgezogen, war in seinen blaugestreiften Kachchhas 303 ins Wasser gestiegen und hatte ihn hereingewinkt. »Komm, Sartaj.« Doch Sartaj hatte nicht gewollt und sich hinter Ma versteckt. »Einem Sher 587 wie meinem Sohn macht doch ein bißchen Kälte nichts aus«, hatte Papa-ji gesagt. »Komm!« Aber Sartaj hatte sich nicht vor der Kälte gefürchtet. Er hatte sich plötzlich geniert. Gegen Papa-jis mächtige braune Schultern kam er sich dünn und klein vor, ganz und gar nicht wie ein Sher. Er wollte nicht, daß die vielen Menschen ihn sahen. Er schüttelte den Kopf und klammerte sich an Ma, und sie ließ ihn gewähren. »Laß den Jungen, Ji«, sagte sie. »Er erkältet sich nur.« Und Papa-ji war lachend aus dem Wasser aufgetaucht und triefend die Stufen heraufgestiegen, und sein Kara hatte an seinem breiten Handgelenk geblitzt.
    Jetzt war Sommer, und Sartaj genierte sich nicht mehr. »Ich tauche mal kurz unter, Ma«, sagte er.
    Sie war erfreut, dachte aber wie immer praktisch. »Du hast doch gar kein Handtuch dabei oder sonst was.«
    Er schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Sie wartete am Dukh Bhanjani Ber auf ihn, seine Kleider ordentlich gefaltet über dem Arm. Er stieg seitlich die nassen Steinstufen hinunter. Das Wasser war überraschend kühl und reichte ihm bis zur Taille. Ringsum standen viele andere Männer und murmelten
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