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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay
Autoren: Vikram Chandra
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vom Schaukeln des Zuges eingelullt, in tiefen Schlaf.
    Der Duft von Chai und Pakoras weckte ihn. Er blieb noch ein paar Minuten liegen und schwelgte in der Verheißung des Augenblicks, im wohligen Gefühl seiner Ausgeruhtheit und Entspannung, im Tempo des pfeifenden Zuges, in der Vorfreude auf zu Hause, wo Mary ihn erwartete. Dann kletterte er hinunter und aß. Die Mädchen holten Rommékarten hervor und teilten sie aus. Ma sagte, sie habe Jahre nicht mehr gespielt, sie sei zu alt, um noch gut spielen zu können, entpuppte sich dann aber als recht gewiefte Spielerin. Ihre Augen strahlten, wenn sie gewann, sie spielte ihre Trümpfe mit wilder Freude aus und klatschte die Karten nur so auf die Unterlage.
    »Are, Ji«, sagte Kulwinder Kaur, »Sie sind ja Expertin! Was für Karten Sie immer ausspielen!«
    Viel später, nach dem Abendessen, als die Familie Birdi fest schlief, setzte Sartaj sich zu seiner Mutter ans Fußende ihrer Koje. Er wußte, daß sie noch lange wach sein würde. Sie lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken. Hinter ihr flogen die Felder vorbei, unheimlich und schön im fließenden Mondlicht.
    »Ma?« sagte er leise.
    »Ja, Beta?«
    »Ma, es gibt da ein Mädchen ...«
    »Ich weiß.«
    »Du weißt?«
    Sie lachte leise. Sartaj konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß sie das Kinn senkte und den Kopf hin und her bewegte.
    »Ich bin schließlich auch eine Polizei-vaali. Ich habe Freunde, die mir so allerlei erzählen. Ich weiß vieles.«
    »Ja, das stimmt.«
    Sie drehte sich auf die Seite, die Hand unter ihrer Wange. »Ich bin froh, Beta.« Sie scherzte nicht mehr. »Ein Mann sollte mit einer Frau zusammen sein. So ist das nun mal. Man kann nicht allein durchs Leben gehen.«
    »Aber du bist doch gern allein.« Vielleicht war es die Dunkelheit, die es ihm möglich machte, so offen zu sprechen, darauf anzuspielen, wie sehr sie auf ihre Unabhängigkeit bedacht war.
    »Das ist was anderes«, sagte sie. »ich habe ein ganzes Leben hinter mir, Sartaj. Ich habe meine Pflicht getan.«
    Sie benutzte das englische Wort »duty«, und Sartaj mußte daran denken, wie Papa-ji immer »Are chetti kar, duty par jaana hai 029 « gerufen hatte. Es war seltsam, Liebe als Pflicht zu begreifen, sich vorzustellen, daß Mas Salvar-kamiz und die rote Paranda 478 eine Art Uniform gewesen waren, daß ihre unermüdliche Sorge um Papa-jis Gesundheit, seine Pflege und Ernährung vielleicht nichts Naturgegebenes gewesen waren, sondern etwas, das sie kultiviert hatte, ein bewußtes Opfer. Dann hatte die vertraute Gestalt vor ihm in all den Häusern, in denen sie zusammen gewohnt hatten, ihr ganz eigenes Leben geführt, sie hatte ihre eigene Erinnerung an jeden Geburtstag, jede Reise. Wieder befiel Sartaj das beunruhigende Gefühl, daß er diese Frau, seine eigene Mutter, Prabhjot Kaur, im Grunde gar nicht kannte. Das schmerzte ihn ein wenig, doch aus dem Schmerz erwuchs eine neue Zuneigung für diese Fremde, mit der er so viele Jahre verbracht hatte. Sie hatte hart gearbeitet, ohne Anerkennung, ohne Belohnung. Vielleicht hatte sie mehr von einer unterbezahlten Polizei-vaali an sich, als ihr bewußt war. Er lächelte und fragte: »Are, tun dir die Füße weh?«
    »Ein bißchen.«
    Sartaj massierte ihre Knöchel und Füße. Der Zug beschleunigte und fuhr mit ohrenbetäubendem Rattern, in dem sich Überschwang und Wehmut mischten, über eine lange Brücke. Wer immer sie war, diese Frau - Sartaj fühlte sich nicht allein, als er hier bei ihr saß, er fühlte sich nicht einsam. Sie war so vieles für ihn gewesen. Sie waren Mutter und Sohn gewesen, aber sie waren auch Prabhjot Kaur und Sartaj Singh, sie waren einander über viele Jahre Halt und Stütze gewesen, und sie waren Freunde. Vor dem Fenster draußen zog sich der Fluß silberglitzernd zum Horizont. Sartaj hielt den Fuß seiner Mutter in der Hand, er spürte dessen Gebrechlichkeit und dachte: Sie ist alt. Er gestattete sich, an ihren Tod zu denken, und plötzlich schauderte er, ohne jedoch traurig zu sein. Jede Bindung trug den Verlust, die Möglichkeit des Verrats in sich. Man entging diesem Mysterium nicht, es gab kein Entrinnen, und darüber zu klagen war sinnlos. Liebe war Pflicht, und Pflicht war Liebe.
    Als Sartaj sich bei diesen philosophischen Betrachtungen ertappte, mußte er grinsen. Er kam sich albern vor. Ich muß müde sein, dachte er. Er tätschelte noch einmal Mas Fuß, kletterte dann leise in seine Koje hinauf und kuschelte sich unter das frisch duftende
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