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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay
Autoren: Vikram Chandra
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»Irgend jemand muß ihnen ja sagen, wie hart unsere Arbeit ist.«
    Kamble stieß ein schnaubendes Lachen aus.
    Sartaj setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug den Indian Express auf. Zwei Mitglieder der Gaitonde-Gang waren bei einem Feuergefecht mit dem Sondereinsatzkommando in Bhayander erschossen worden. Die Polizei hatte auf Informationen reagiert, die ihr zugespielt worden waren, und die beiden Erpresser abgefangen, als sie in das Büro einer Fabrik eindringen wollten. Man hatte sie aufgefordert, stehenzubleiben und sich zu ergeben, doch statt dessen hatten sie sofort auf die Beamten geschossen, die daraufhin zurückgeschossen hatten, und so weiter und so weiter. Auf einem Farbfoto beugten sich Zivilbeamte über zwei längliche rote Flecken auf dem Boden. Außerdem wurde über zwei Einbrüche in Andheri East und einen in Worli berichtet, bei dem ein junges Paar erstochen worden war. Während Sartaj las, redete ein älterer Mann, der nebenan vor Kambles Schreibtisch saß, von langsamem Sterben. Seine achtzigjährige Tante mütterlicherseits sei die Treppe hinuntergefallen und habe sich die Hüfte gebrochen. Man habe sie in die Shivsagar Polyclinic gebracht, wo sie die ständigen Schmerzen in ihren alten Knochen mit gewohntem Gleichmut ertragen habe. Immerhin sei sie '42 mit Gandhi marschiert, ein berittener Polizist habe ihr damals mit seinem Schlagstock das Schlüsselbein gebrochen, und später habe sie im Gefängnis auf dem nackten Boden schlafen müssen. Sie habe eine altmodische Kraft und Stärke besessen und es als ihre Pflicht in dieser Welt betrachtet, sich aufzuopfern. Doch als die Druckgeschwüre zu tiefen roten Wunden an Armen, Schultern und Rücken erblüht seien, habe selbst sie gemeint, es sei vielleicht doch an der Zeit zu sterben. Nie zuvor habe er dergleichen von ihr gehört, jetzt aber habe sie gestöhnt, sie wolle sterben. Und es habe zweiundzwanzig Tage gedauert, bis sie erlöst worden sei, zweiundzwanzig Tage bis zu dem seligen Dunkel.
    »Wenn Sie sie gesehen hätten«, sagte der ältere Mann, »Sie hätten auch geweint.«
    Kamble blätterte in einem Register. Sartaj glaubte dem älteren Mann aufs Wort, und er wußte auch, was sein Problem war: Ohne die Unbedenklichkeitsbescheinigung der Polizei würde die Shivsagar Polyclinic den Leichnam nicht freigeben - ein handgeschriebener Text mit dem Briefkopf der Brihanmumbai Municipal Corporation, der besagte, daß die Frau nach Überzeugung der Polizei eines natürlichen Todes gestorben und ein Verbrechen ausgeschlossen sei, die Leiche könne den Verwandten übergeben werden. Man wollte auf diese Weise verhindern, daß Morde - Mitgiftmorde und dergleichen - als Unfälle durchgingen, und Unterinspektor Kamble sollte das Papier im Namen der allzeit wachsamen khakiuniformierten Wächter Mumbais unterzeichnen. Es lag griffbereit auf seinem Schreibtisch, doch er war vollauf damit beschäftigt, etwas in sein Register einzutragen. Der ältere Mann hielt die Hände gefaltet, das weiße Haar fiel ihm in die Stirn, und er sah den ungerührten Kamble aus feuchten Augen an. »Bitte, Sir«, sagte er.
    Alles in allem eine wohldurchdachte Vorstellung, fand Sartaj, die Trauer war echt, nur das mit Gandhi und dem gebrochenen Schlüsselbein hatte stark übertrieben und melodramatisch vorwurfsvoll geklungen. Der alte Mann wußte so gut wie Kamble, daß eine Zahlung erfolgen mußte, ehe das Papier unterzeichnet wurde. Kamble würde wahrscheinlich auf achthundert Rupien bestehen, der Mann aber nur fünfhundert geben wollen; die Opfer der älteren Generation waren jedoch in etlichen Filmen bis zum Überdruß strapaziert worden, und eine Strategie, die mit der Degeneration Indiens argumentierte, ließ Kamble kalt. Er klappte sein Register zu, griff nach einem anderen, grünen, und begann aufmerksam darin zu lesen. Der alte Mann fing seine Geschichte noch einmal von vorn an, beim Treppensturz seiner Tante. Sartaj stand auf, reckte sich und ging in den Hof hinaus. Im Schatten der Galerie, die sich über die ganze Vorderfront des Gebäudes zog, und unter dem blechernen Vordach am Eingang hatte sich die übliche Menge versammelt: Schwarzhändler und Schmarotzer, Verwandte derer, die gefesselt im Verhörraum saßen, Boten und Abgesandte von Geschäftsleuten der Gegend, Bittsteller und der eine oder andere von Unglück oder plötzlicher Not Gezeichnete, der in einer Mischung aus Hoffnung und Schmerz zu Sartaj aufsah.
    Sartaj ging an ihnen allen vorbei. Eine zweieinhalb
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