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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch
Autoren: Volker Kutscher
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Raum. »Alles kommt mit zum Präsidium! Gegenwehr ist zwecklos. Lasst besser alles
     stecken, wo es steckt! Vor allem, wenn es wie eine Waffe aussehen sollte!«
    Nun schauten auch Hindenburg und Mata Hari auf. Niemand kam auf die Idee, sich zu wehren. Einige Hände gingen in die Höhe,
     andere schoben sich reflexartig vor Geschlechtsteile. Alle vier Frauen im Atelier waren kaum oder gar nicht bekleidet. Die
     Beamtinnen warfen ihnen Wolldecken über die Blöße, dann traten die Uniformierten in Aktion. Die ersten Handschellen klickten.
     König faselte irgendetwas von Erotik und Freiheit der Kunst, verstummte aber, als Wolter ihn anschnauzte. Und dann war die
     Prominenz dran. Bismarck – klick. Fridericus Rex – klick. Der Alte Fritz hatte tatsächlich Tränen in den Augen, als man ihm
     die Eisen anlegte. Alle wurden der Reihe nach verpackt. Hindenburg und Mata Hari musste man vom Kanapee holen. Die Jungs von
     der Bereitschaft hatten leichtes Spiel. Und ihren Spaß.
    Rath hatte genug gesehen und ging zurück ins Treppenhaus. Keine Gefahr mehr, dass einer entwischte. Er stand am Geländer und
     schaute in die Tiefe. Den Hut hatte er abgenommen, seine Hände spielten mit dem grauen Filz. Wenn das hier vorbei wäre, stünden
     noch die Verhöre im Präsidium an. Viel Arbeit, nur um ein paar Ratten an die Wand zu nageln, die ihr Geld damit verdienten,
     andere beim Bumsen zu fotografieren und nationale Gefühle zu verletzen. An die Hintermänner, die das wirklich große Geld machten,
     würden sie sowieso nicht rankommen, stattdessen würden wieder ein paar arme Schweine hinter Gittern landen. Lanke hätte ein
     Erfolgserlebnis, das er an den Polizeipräsidenten melden könnte, und nichts würde sich ändern. Rath musste sich große Mühe
     geben, darin einen Sinn zu sehen. Nicht, dass er Pornographie guthieß. Aber er konnte sich auch nicht besonders darüber aufregen.
     So war die Welt nun einmal, seit sie aus den Fugen geraten war. 1919 hatte die Revolution alle moralischen Werte auf den Kopf
     gestellt, 1923 die Inflation alle materiellen. Gab es nicht wichtigere Dinge, um die die Polizei sich zu kümmern hatte? Ruhe
     und Ordnung aufrechtzuerhalten zum Beispiel, und dafür zu sorgen, dass nicht einer den anderen ungestraft totschlagen kann?In der Mordkommission hatte er gewusst, warum er bei der Polizei arbeitete. Aber bei der Sitte? Wen kümmerten schon ein paar
     Pornos mehr oder weniger? Vielleicht die selbsternannten Moralapostel, die auch in der Republik ihren Platz gefunden hatten,
     aber zu denen gehörte er nicht.
    Das Geräusch einer Toilettenspülung riss ihn aus seinen Gedanken. Auf halber Treppe öffnete sich eine Tür. Ein schlanker Mann
     wollte sich gerade die Hosenträger übers Unterhemd ziehen und stutzte, als er Rath dort oben stehen sah. Der Kommissar kannte
     das Gesicht. Ein Gesicht, das in der Sammlung noch fehlte. Der spitze Schnurrbart, die strengen Augen, die nun eher überrascht
     schauten. Der falsche Wilhelm zwo brauchte keine Sekunde, um die Situation zu erfassen. Mit einem Satz war er über das Geländer
     und fast eine halbe Etage hinuntergesprungen. In schnellem Stakkato polterten seine Schritte abwärts. Rath setzte hinterher.
     Instinktiv. Er war Bulle, er jagte Verbrecher. Und derzeit eben solche, deren Verbrechen darin bestand, einem abgedankten
     Kaiser ähnlich zu sehen und sich beim Vögeln fotografieren zu lassen. Keine Zeit, den Kollegen Bescheid zu sagen. Im Treppenhaus
     war es so dunkel, dass er die Stufen kaum erkennen konnte. Er stolperte mehr, als dass er rannte. Endlich hatte er das Erdgeschoss
     erreicht. Das Tageslicht blendete. Fast wäre er über den Bereitschaftspolizisten gestolpert, der sich gerade vom Boden hochrappelte.
    »Wo isser?«, fragte Rath, und der junge Polizist, der vor fünf Minuten noch Witze über kopulierende Kaiser gerissen hatte,
     zeigte mit zerknirschtem Blick in Richtung Hermannstraße.
    »Ich verfolge den Flüchtigen. Machen Sie Meldung«, brüllte Rath. Dann hetzte er durch die Tore auf die Hermannstraße. Es hatte
     aufgehört zu regnen, doch der Asphalt glänzte noch nass und schwarz. Vor dem Haus hielt die Grüne Minna, die die Ernte ihrer
     Razzia in Empfang nehmen und zum Alex bringen sollte. Und wo war Wilhelm zwo? Rath blickte sich um. Überall entlang der Straße,
     halb auf dem Gehweg, halb auf dem Fahrdamm, lagen Baumaterialien. Balken, Stahlträger und Stahlrohre, an denen sich Fußgänger
     und Autos vorbeizwängten,
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