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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch
Autoren: Volker Kutscher
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spät reagiert, er hatte die Falle nicht erkannt,
     sonst hätte er die Kapsel längst zerbissen. So aber war sie immer noch ins Futter eingenäht. In seiner Jacke, die dort auf
     dem Stuhl lag, dessen Umrisse er in der Dunkelheit gerade noch erkennen konnte.
    Sie hatten ihn nicht gefesselt. Nachdem sie ihm Hände und Füße zertrümmert hatten, hatten sie ihn lediglich in die Seile gehängt,
     um ihn besser bearbeiten zu können, sobald der Schmerz ihn aus der Ohnmacht zurückgeholt hatte. Sie hatten keinen Bewacher
     zurückgelassen, so sicher waren sie sich, dass niemand seine Schreie hörte. Er wusste, es war seine letzte Chance. Die Wirkung
     der Droge ließ nach. Der Schmerz würde unerträglich sein, würde ihn womöglich zurück in die Ohnmacht treiben, wenn er den
     Halt der Seile aufgäbe. Für wie lange? Der Gedanke an den kommenden Schmerz wurde zu einer Erinnerung an den überstandenen
     und trieb ihm Schweiß auf die Stirn.
    Er hatte keine Wahl.
    Jetzt!
    Er biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. Beide Arme streckten sich, die Armbeugen verloren ihren Halt und damit sein
     ganzer Körper. Die Breiklumpen, die einmal seine Füße gewesen waren, berührten den Boden zuerst. Er schrie, noch bevor er
     mit dem Oberkörper auf den Betonboden klatschte und die Erschütterung des Aufpralls den Schmerz auch in seinen Händen zu alter Größe heranwachsen ließ. Nur nicht das Bewusstsein verlieren!
     Schrei, aber bleib oben, tauche nicht weg! Er krümmte sich am Boden, sein Atem hechelte, als das Pochen und Stechen wieder
     etwas nachließ. Er hatte es geschafft! Er lag auf dem Boden, er konnte sich bewegen. Vorwärts robben auf Ellbogen und Knien,
     eine Blutspur hinter sich herziehend.
    Schnell war er am Stuhl und hatte seine Jacke mit den Zähnen heruntergerissen. Gierig machte er sich über das Kleidungsstück
     her. Mit dem rechten Ellbogen fixierte er die Jacke und riss mit den Zähnen am Futter. Die Schmerzen machten ihn nur wütender
     in seinem Reißen und Zerren. Schließlich hatte er das Futter mit einem lauten Ratsch geöffnet.
    Plötzlich musste er hemmungslos schluchzen. Die Erinnerung hatte ihn gepackt, wie eine Raubkatze ihr Opfer packt und schüttelt.
     Die Erinnerung an sie. Er würde sie nie wiedersehen. Er hatte es gewusst, seit sie ihn in die Falle gelockt hatten, doch mit
     einem Mal wurde es ihm furchtbar klar. Wie sehr er sie liebte! Wie sehr!
    Langsam beruhigte er sich wieder. Seine Zunge suchte nach der Kapsel, sie schmeckte Dreck und Flusen, doch schließlich ertastete
     sie die glatte kühle Oberfläche. Mit den Schneidezähnen zog er sie vorsichtig aus dem Futter. Geschafft! Sie befand sich in
     seinem Mund! Die Kapsel, die alles beenden sollte! Ein triumphierendes Lächeln glitt über sein schmerzzerfurchtes Gesicht.
    Sie würden nichts erfahren. Sie würden sich gegenseitig die Schuld geben. Sie waren dumm.
    Er hörte oben eine Tür zuschlagen. Wie ein Donnerschlag verhallte das Geräusch in der Dunkelheit. Schritte auf Beton. Sie
     kamen zurück. Hatten sie den Schrei gehört? Seine Zähne hielten die Kapsel, bereit zuzubeißen. Jetzt war er so weit. Jederzeit
     konnte er es beenden. Er wartete noch ein wenig. Sie sollten hereinkommen. Er wollte seinen Triumph auskosten bis zur letzten
     Sekunde.
    Sie sollten es sehen! Sie sollten hilflos danebenstehen und zusehen müssen, wie er ihnen entkam.
    Er schloss die Augen, als sie die Tür öffneten und helles Licht in die Dunkelheit drang. Dann biss er zu. Mit einem leisen Klicken zerbrach das Glas in seinem Mund.

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    2
    D er Mann erinnerte ein wenig an Wilhelm zwo. Der markante Schnurrbart, der stechende Blick. Wie auf dem Porträt, das zu Kaisers
     Zeiten in der Stube eines jeden guten Deutschen hing – und in manch einer immer noch nicht abgehängt war, obwohl der Kaiser
     vor über zehn Jahren abgedankt hatte und seitdem in Holland Tulpen züchtete. Der gleiche Schnurrbart, die gleichen Blitzeaugen.
     Doch da endeten auch die Gemeinsamkeiten. Dieser Kaiser trug keine Pickelhaube, die hing zusammen mit Säbel und Uniform über
     dem Bettpfosten. Dieser Mann trug nichts außer dem nach oben gezwirbelten Schnurrbart und einer imposanten Erektion. Vor ihm
     kniete eine nicht minder nackte Frau, gesegnet mit üppigen Rundungen, die dem kaiserlichen Zepter offensichtlich den gebotenen
     Respekt entgegenzubringen gedachte.
    Rath blätterte lustlos in den Fotos, deren eigentlicher Zweck es war, Lust zu erregen. Weitere
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