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Der nasse Fisch

Der nasse Fisch

Titel: Der nasse Fisch
Autoren: Volker Kutscher
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gleichen Weg, der Pornokaiser musste Fassadenkletterer oder Akrobat sein. Oder beides. Nichts für einen
     Polizisten ohne Zirkuserfahrung. Rath entschied sich für das Gerüst und schwang sich auf die nächstbeste Leiter. Vorsichtig,
     Stockwerk für Stockwerk, stieg er nach oben, immer darauf bedacht, die flink kletternde Ratte nicht aus den Augen zu verlieren.
     Heute war Sonntag, die riesige Baustelle verlassen. Nur zwei Menschen bewegten sich in dem Gewirr aus Stahl und Holz. Dann
     waren die Leitern zu Ende. In der siebten Etage hörte das Gerüst auf, höher war das Hauptgebäude nicht. Der Lastenaufzug aber
     stand am Nordturm, der einem abgebrochenen Wolkenkratzer glich, und dessen Gerüst führte noch ein paar Etagen höher hinauf.
     Wilhelm war weitergeklettert. Wollte der bis zur Turmspitze? Es sah fast so aus. Rath stöhnte. Nur nicht nach unten blicken,
     betete er sich vor, nur nicht nach unten! Oben in den Aufzugstreben kletterte der Kaiser. In sechzig Metern Höhe. Rath versuchte,
     nicht daran zu denken, und sah starr geradeaus. Er musste ein paar Meter über schwankende Bohlen laufen, um den Nordturm zu
     erreichen. Das nächste Gerüst, die nächsten Leitern, und die Kletterei ging weiter. Den Kaiser sah er nicht mehr. Ganz egal,
     einfach weiter nach oben, sie würden ihn schon kriegen. Und dann hatte er das Ende des Turmgerüsts erreicht. Rath war völlig
     außer Atem und lehnte seinen Kopf gegen einen kühlen Eisenträger.
    Keuchend schaute er sich um. Wo war der Kerl? Nichts zu sehen. Konnte sich der Drecksack nicht einfach ergeben? Er musste
     doch einsehen, dass es zwecklos war!
    Er fühlte, wie sich seine Hände um den Eisenträger krampften, als er den Blick nach unten richtete. Warum nur zog ihn die
     Tiefe derart an, wo sie ihn doch gleichzeitig so in Panik versetzte? Aufdem Hermannplatz wuselten unendlich kleine Winzlinge durcheinander, Spielzeugautos rollten kreuz und quer. Seine Knie wurden
     weich. Über die Dächer konnte er weit hinein nach Kreuzberg schauen, die große Halle des Görlitzer Bahnhofs mitten im Häusermeer
     und in der Ferne die Schornsteine des Kraftwerks Klingenberg vor einem grauen Himmel.
    Er zwang sich, zurück auf das Gerüst zu schauen. Wo war der falsche Kaiser? Wieder auf dem Weg nach unten? Auch gut, da würde
     Bruno ihn in Empfang nehmen. Doch wenn der Kerl noch hier oben rumturnte, dann wäre es seine Aufgabe, die Ratte zu verschnüren, die Aufgabe von Gereon Rath, Höhenangst hin oder her. Er versuchte zu lauschen, doch der
     Wind pfiff unerträglich laut. Vorsichtig kletterte er eine Etage tiefer, hier war es wenigstens etwas windgeschützt.
    Und plötzlich stand Wilhelm zwo vor ihm.
    Der Mann schien ebenso erschrocken zu sein wie der Kommissar. Seine Augen waren weit aufgerissen, eine Hälfte seines falschen
     Schnurrbarts hatte er auf seiner wilden Flucht verloren.
    »Hau ab, Bulle«, sagte er. Seine Stimme klang nervös und schrill. Alles andere als majestätisch. Seine Augen hatten etwas
     Wahnsinniges, ein Eindruck, den die verschmierte Theaterschminke noch verstärkte.
    Kokain, dachte Rath sofort, der ist auf Koks, der hat sich vorhin auf dem Klo die Nase vollgezogen. Das kann ja heiter werden.
    »Mensch, Junge«, sagte er und versuchte, möglichst ruhig zu klingen, »sieh doch ein, dass es zwecklos ist. Du hättest uns
     beiden schon die Kletterei ersparen können, erspar uns wenigstens weiteren Ärger.«
    »Dir erspar ick überhaupt keen Ärja«, sagte der Mann. Plötzlich hatte er etwas metallisch Glänzendes in der Hand. Na prima,
     dachte Rath, ein Kokser mit Knarre.
    »Steck das Ding lieber wieder weg«, sagte er. »Oder gib es mir. Und ich versprech dir, ich hab keine Pistole in deiner Hand
     gesehen. Auch nicht, wie du einen Beamten damit bedroht hast.«
    »Märchenstunde zu Ende, Arschloch?«
    »Beamtenbeleidigung kann ich auch vergessen.«
    »Und wenn ick dir ein Loch in deine Birne brate, kannste det ooch verjessen, wa?«
    »Ich will ja nur vernünftig mit dir reden.«
    Die Waffe in der Hand zitterte leicht. Rath sah, dass es ein kleines Kaliber sein musste, aber sie standen nicht weit voneinander
     entfernt, für einen Polizistenmord würde es im Zweifelsfall reichen.
    »Du willst mir nur einlullen, Scheißbulle! Bis dein Kumpel dir helfen kommt!«
    Der Kokser wusste gar nicht, wie recht er hatte: Rath sah, wie Wolter langsam hinter dem Mann auf die Bohlen kletterte.
    »Mein Kumpel, der wartet unten auf dich«, sagte er. »An dem
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