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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose
Autoren: Umberto Eco
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murmelnd und keinen Muskel in seinem Gesicht bewegend. Bei solchen Gelegenheiten erschien ein Ausdruck von Leere und Abwesenheit in seinem Blick, und ich hätte ihn fast schon unter dem Einfluß einer Visionen erzeugenden Kräutersubstanz gewähnt, hätte nicht die Enthaltsamkeit seines ganzen Lebenswandels mir einen solchen Verdacht untersagt. Gleichwohl sei nicht verschwiegen, daß er im Verlauf unserer Reise sich manchmal an einem Wiesensaum oder Waldrand aufhielt, um irgendein Kraut zu sammeln (vermutlich immer dasselbe) und es dann mit selbstvergessener Miene zu kauen. Etwas davon trug er immer bei sich und aß es in den Momenten höchster Spannung (von denen wir viele hatten in der Abtei!).
    Als ich ihn einmal fragte, um was für ein Kraut es sich handele, sagte er lächelnd, ein guter Christ könne zuweilen auch von den Ungläubigen etwas lernen, und als ich ihn bat, mich davon kosten zu lassen, erwiderte er, wie in den höheren Künsten gebe es auch in den niederen paidikoi und ephebikoi und gynaikeioi und so weiter, und was gut sei für einen alten Franziskaner, sei deshalb noch lange nicht gut für einen jungen Benediktiner.
    In den Wochen unseres Beisammenseins hatten wir nicht viel Gelegenheit, ein geregeltes Leben zu führen. In der Abtei mußten wir die Nächte durchwachen und fielen tagsüber vor Müdigkeit um, auch nahmen wir nicht regelmäßig an den Gottesdiensten teil. Auf der Reise kam es allerdings selten vor, daß William nach der Komplet noch aufblieb, und im allgemeinen lebte er äußerst genügsam. Manchmal, vor allem in der Abtei, verbrachte er halbe Tage im Klostergarten und examinierte Pflanzen, als wären sie Chrysoprase oder Smaragde, und dann wiederum sah ich ihn in der Krypta zwischen den Schätzen 13
    Der Name der Rose – Prolog
    herumgehen und einen mit Smaragden und Chrysoprasen besetzten Reliquienschrein betrachten, als sei er ein Stechapfelstrauch. Ein andermal verbrachte er einen halben Tag im großen Saal des Skriptoriums und blätterte in Manuskripten, als suche er darin nichts anderes als sein Vergnügen (während sich um uns die Leichen grausam ermordeter Mönche häuften). Eines Tages traf ich ihn im Garten, wo er anscheinend vollkommen ziellos umherschlenderte, als hätte er Gott nicht Rechenschaft abzulegen über sein Tun. In Melk war mir eine andere Art von Zeitvertreib beigebracht worden, und ich sagte ihm das. Woraufhin er mir antwortete, die Schönheit des Kosmos bestehe nicht nur aus der Einheit in der Vielfalt, sondern auch aus der Vielfalt in der Einheit. Mir kam diese Antwort recht fragwürdig vor, ja geprägt von einer naiven, ungeschliffenen Empirie, aber später sollte ich lernen, daß Bruder Williams Landsleute häufig die Dinge in einer Weise zu definieren pflegen, in welcher das klare Licht der Vernunft keine allzu große Rolle spielt.
    Während unseres Aufenthalts in der Abtei sah ich seine Hände stets bedeckt vom Staub der Bücher, vom Gold der noch frischen Miniaturen oder von gelblichen Substanzen, die er in Severins Hospital berührt hatte. Man mochte meinen, er könne nur mit den Händen denken, was mir eher eines Mechanikus würdig schien (und der Mechanikus, so hatte man mich gelehrt, ist moechus , er verhält sich ehebrecherisch gegenüber der vita intellectualis , anstatt im keuschesten Ehebunde mit ihr vereint zu sein). Doch wenn Bruder Williams Hände die zartesten Dinge berührten, etwa gewisse Handschriften mit noch feuchten Miniaturen oder brüchige, vom Zahn der Zeit ganz zerfressene Buchseiten, so besaß er, wie mir schien, eine außerordentliche Feinfühligkeit – die gleiche, die er im Umgang mit seinen Maschinen bezeugte. Jawohl, mit seinen Maschinen, denn dieser seltsame Mann trug in seinem Reisebeutel merkwürdige Instrumente mit sich herum, die ich noch nie gesehen hatte und die er seine wunderbaren kleinen Maschinen nannte.
    Maschinen, so sagte er mir, seien Ausflüsse der Kunst, die ihrerseits die Natur imitiert, und von dieser reproduzierten sie nicht die Form, sondern die Wirkungsweise. So erklärte er mir mit der Zeit die Funktion der Augengläser, des Astrolabiums und des Magneten. Anfangs freilich fürchtete ich, es handle sich um eine Art Hexerei, und stellte mich schlafend, wenn er in klaren Nächten aufstand, um (mit einem seltsamen Dreieck in der Hand) die Sterne zu beobachten. Die Franziskaner, die ich in Italien und in meiner Heimat kennengelernt hatte, waren einfache Männer gewesen, oft sogar Analphabeten, und so
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