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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose
Autoren: Umberto Eco
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währte zwei Wochen, in welchen so manches geschah, und das gab mir Gelegenheit, meinen neuen Lehrmeister besser kennenzulernen (wenn auch nie gut genug, wie ich mir immer sage).
    Ich werde mich auf den folgenden Seiten nicht mit Personenbeschreibungen aufhalten (es sei denn, ein bestimmter Gesichtsausdruck oder eine Geste erscheinen als Zeichen einer zwar stummen, aber deshalb nicht minder beredten Sprache), denn wie Boethius sagt: Nichts ist flüchtiger als die äußere Form, sie welkt und vergeht wie die Blumen des Feldes beim Anbruch des Herbstes, und welchen Sinn hätte es, heute etwa 12
    Der Name der Rose – Prolog
    von dem Abt Abbo zu sagen, er habe stechende Augen und bleiche Wangen gehabt, wo er doch nun mit seiner ganzen Umgebung zu Staub zerfallen ist, und des Staubes todkündendes Grau färbt seinen mürben Körper (während allein seine Seele – so Gott will – in einem nie verlöschenden Licht erglänzt)? Indessen: von Bruder William möchte ich sprechen, einmal wenigstens hier, ein und für allemal, denn bei seinem Anblick fesselten mich noch die feinsten Gesichtszüge, und es gehört ja zum Wesen des Jünglings, sich zu begeistern für einen älteren, weiseren Mann, nicht nur bezaubert vom Charme seiner Worte und vom Scharfsinn seines Geistes, sondern sehr wohl auch betört von der äußeren Form seines Körpers, die einem lieb und teuer erscheinen mag wie die Gestalt eines Vaters, dessen Bewegungen man studiert und in dessen Antlitz man die geringsten Zeichen des Unmuts ebenso rasch erkennt wie die Andeutung eines Lächelns –
    ohne daß auch nur ein Schatten von wollüstiger Begierde diese besondere Art körperlicher Liebe (vielleicht die einzige wirklich reine) befleckt.
    Die Menschen von ehedem waren groß und schön, die heutigen sind wie unreife Kinder und Zwerge, doch diese Tatsache ist nur eine der vielen, die das Elend unserer vergreisenden Welt bezeugen. Die Jugend will nichts mehr lernen, die Wissenschaft ist im Verfall, die ganze Welt steht auf dem Kopfe, Blinde führen andere Blinde und lassen sie in die Grube stürzen, die Vögel schießen hernieder, bevor sie sich in die Lüfte erheben, der Esel spielt auf der Leier, die Ochsen drehen sich im Tanz. Maria liebt nicht mehr das kontemplative Leben und Martha liebt nicht mehr das tätige Leben, Lea ist unfruchtbar, Rahel schaut lüstern drein, Cato geht ins Bordell und Lukrez wird weibisch. Alles ist abgewichen von seinem vorgezeichneten Wege. Dank sei dem Herrn, daß ich in solch finsteren Zeiten einen Lehrmeister hatte, der mir die Wißbegier einflößte und den Sinn für den aufrechten Gang, welcher nicht wankt noch weicht, auch wenn der Weg holprig wird.
    Die physische Erscheinung Williams von Baskerville war so eindrucksvoll, daß sie noch die Aufmerksamkeit des zerstreutesten Beobachters auf sich gezogen hätte. Seine hohe Gestalt überragte die eines gewöhnlichen Mannes, und durch ihre Schlankheit wirkte sie sogar noch größer. Er hatte scharfe, durchdringende Augen, und die schmale, leicht gebogene Nase verlieh seinem Antlitz den Ausdruck einer lebhaften Wachsamkeit (außer in jenen Momenten der Starre, von denen ich noch sprechen werde). Auch sein Kinn verriet einen starken Willen, mochte sein langgezogenes Gesicht, das voller Sommersprossen war (wie man es oft bei Leuten aus dem Inselreich zwischen Hibernia und Northumbria sieht), zuweilen auch Unsicherheit und Verblüffung ausdrücken können. Mit der Zeit begriff ich dann freilich, daß diese scheinbare Unsicherheit in Wirklichkeit bloße Neugier war, doch anfangs wußte ich wenig von dieser Tugend und hielt sie eher für eine Leidenschaft der lüsternen Seele; ich war der Ansicht, daß der vernünftige Geist sich nicht an ihr nähren dürfe, seine Nahrung sei einzig die reine Wahrheit, die man (wie ich meinte) von Anfang an kennt.
    Kindisch, wie ich war, fesselten mich als erstes die flaumighellen Haarbüschel, die aus Bruder Williams Ohren kamen, und seine dichten blonden Brauen. Er mochte ungefähr fünfzig Lenze zählen, war also schon ziemlich alt, doch er bewegte seinen unermüdlichen Körper mit einer Leichtigkeit, die mir selber oft abging.
    Seine Energie schien unerschöpflich, wenn es rasch und gezielt zu handeln galt. Von Zeit zu Zeit aber, gleichsam als hätte sein Lebensgeist teil an der Gangart des Krebses, wich er zurück in Phasen der Trägheit, und stundenlang sah ich ihn dann lang ausgestreckt auf seiner Bettstatt in der Zelle liegen, kaum eine Silbe
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