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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose
Autoren: Umberto Eco
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reiner Liebe zum Schreiben. So fühle ich mich denn nun frei, aus schierer Lust am Fabulieren die Geschichte des Adson von Melk zu erzählen, und es erscheint mir stärkend und tröstlich, daß sie so unendlich fern in der Zeit ist (heute, da das Erwachen der Vernunft all jene Monster vertrieben hat, die ihr Schlaf einst zeugte), so herrlich frei von allen Bezügen zur Gegenwart, so zeitlos fremd unseren Hoffnungen und Gewißheiten.
    Denn es ist eine Geschichte von Büchern, nicht von den Kümmernissen des Alltags, und ihre Lektüre mag uns dazu bewegen, mit dem großen Imitator a Kempis zu rezitieren: »In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro.«
    5. Januar 1980
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    Der Name der Rose – Natürlich, eine alte Handschrift
    ANMERKUNG
    Das Manuskript des Adson ist in sieben Tage gegliedert und jeder Tag in mehrere Abschnitte, die den liturgischen Stunden entsprechen. Die Kapitelüberschriften, in der dritten Person formuliert, sind wahrscheinlich von Abbé Vallet hinzugefügt worden. Doch da sie nützlich sind zur Orientierung des Lesers und im übrigen keineswegs den Gebräuchen der Volksliteratur jener Zeit widersprechen, hielt ich es nicht für nötig, sie zu entfernen.
    Einiges Kopfzerbrechen haben mir Adsons Bezugnahmen auf die kanonischen Stunden bereitet – nicht nur weil deren genaue Bestimmung je nach Regionen und Jahreszeiten schwankt, sondern auch weil man im 14. Jahrhundert die Vorschriften der Ordensregel des hl. Benedikt sehr wahrscheinlich nicht mehr allzu streng befolgt haben dürfte.
    Unter Berücksichtigung des Kontexts und nach einem Vergleich der ursprünglichen Regel mit der Beschreibung des mönchischen Lebens, die Edouard Schneider in seinem Buch Les heures bénédictines (Grasset, Paris 1925) gegeben hat, scheint mir jedoch folgende Schätzung annähernd zuzutreffen: Mette
    (lat. Matutina , der Nachtgottesdienst, bei Adson zuweilen auch mit dem älteren Ausdruck Vigiliae bezeichnet) = frühmorgens zwischen 2.30 Uhr und 3.00 Uhr;
    Laudes
    (das Morgenlob, in der älteren Tradition Matutinae genannt) = zwischen 5.00 Uhr und 6.00
    Uhr, so daß der Gottesdienst bei Anbruch der Dämmerung endet;
    Prima
    (die erste Stunde) = gegen 7.30 Uhr, kurz bevor es hell wird;
    Tertia
    (die dritte Stunde) = gegen 9.00 Uhr;
    Sexta
    (die sechste Stunde) = 12.00 Uhr mittags; in Klöstern, deren Mönche im Winter nicht auf
    den Feldern arbeiteten, war dies auch die Stunde des Mittagsmahls;
    Nona
    (die neunte Stunde) = zwischen 14.00 Uhr und 15.00 Uhr;
    Vesper
    (der Abendgottesdienst) = gegen 16.30 Uhr, bei Einbruch der Dämmerung (der Regel
    zufolge mußte das Abendmahl eingenommen werden, bevor es dunkel war);
    Komplet
    (das Nachtgebet, auch Completorium genannt) = gegen 18.00 Uhr; um 19.00 Uhr hatten die Mönche zu schlafen.
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    Prolog
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    10
    Der Name der Rose – Prolog
    Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Das selbige war im Anfang bei Gott, und so wäre es Aufgabe eines jeden gläubigen Mönches, täglich das einzige eherne Faktum zu wiederholen, dessen unumstößliche Wahrheit feststeht. Doch videmus nunc per speculum in aenigmate , die Wahrheit verbirgt sich im Rätsel, bevor sie sich uns von Angesicht zu Angesicht offenbart, und nur für kurze Augenblicke (oh, wie so schwer zu fassende!) tritt sie hervor im Irrtum der Welt, weshalb wir ihre getreulichen Zeichen entziffern müssen, auch wo sie uns dunkel erscheinen und gleichsam durchwoben von einem gänzlich aufs Böse gerichteten Willen.
    Dem Ende meines sündigen Lebens nahe, ergraut wie die Welt und in der Erwartung, mich bald zu verlieren im endlosen formlosen Abgrund der stillen wüsten Gottheit, teilhabend schon am
    immerwährenden Licht der himmlischen Klarheit, zurückgehalten nur noch von meinem schweren und siechen Körper in dieser Zelle meines geliebten Klosters zu Melk, hebe ich nunmehr an, diesem Pergament die denkwürdigen und entsetzlichen Ereignisse anzuvertrauen, deren Zeuge zu werden mir in meiner Jugend einst widerfuhr. Verbatim will ich berichten, was ich damals sah und vernahm, ohne mich zu erkühnen, daraus einen höheren Plan abzuleiten, vielmehr gleichsam nur Zeichen von Zeichen weitergebend an jene, die nach mir kommen werden (so ihnen der Antichrist nicht zuvorkommt), auf daß es ihnen gelingen möge, sie zu entziffern.
    Der Herr gewähre es mir in seiner Gnade, ein klares Bild der Ereignisse zu entwerfen, die sich zugetragen in jener Abtei, deren Lage, ja selbst
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