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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose
Autoren: Umberto Eco
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historisch immer weiter nach hinten zu schieben: Erst schien er auf einige Schriftsteller oder Künstler der letzten zwanzig Jahre zu passen, dann gelangte er, rückwärts durch die Jahrzehnte wandernd, allmählich bis zum Beginn des Jahrhunderts, dann ging er noch weiter zurück, und er ist immer noch unterwegs; bald wird die Kategorie des Postmodernen bei Homer angelangt sein.
    Ich glaube indessen, daß »postmodern« keine zeitlich begrenzbare Strömung ist, sondern eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, eine Vorgehensweise, ein Kunstwollen *. Man könnte geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eigenen Manierismus (und vielleicht, ich frage es mich, ist postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie). Ich glaube, daß man in jeder Epoche an Krisenmomente gelangt, wie sie Nietzsche im Zweiten Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen , über den »Nachteil der Historie für das Leben«, beschrieben hat. Die Vergangenheit konditioniert, belastet, erpreßt uns. Die sogenannte »historische« Avantgarde (aber auch hier würde ich Avantgarde als metahistorische Kategorie verstehen) will mit der Vergangenheit abrechnen, sie erledigen. »Nieder mit dem Mondschein!«, die Kampfparole der Futuristen, ist ein typisches Programm jeder Avantgarde, man muß nur etwas Passendes an die Stelle des Mondscheins setzen. Die Avantgarde zerstört, entstellt die Vergangenheit: Picassos Demoiselles d'Avignon sind die typische Auftrittsgebärde der Avantgarde; dann geht die Avantgarde weiter, zerstört die Figur, annulliert sie, gelangt zum Abstrakten, zum Informellen, zur weißen Leinwand, zur zerrissenen Leinwand, zur verbrannten Leinwand; in der Architektur ist das Ende die Minimalbedingung des Curtain Wall, das Bauwerk als glatte Stele, das reine Parallelepiped, in der Literatur die Zerstörung des Redeflusses bis hin zur Collage à la Burroughs, bis hin zum Verstummen oder zur leeren Seite, in der Musik der Übergang von der Atonalität zum Lärm, zum bloßen Geräusch oder zum totalen Schweigen (in diesem Sinne ist der frühe Gage ein Moderner).
    Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weitergehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht (die Concept Art). Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß
    * im Original deutsch (A. d. Ü.)
    344
    Nachschrift zum »Namen der Rose«
    genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie . . . Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.
    Ironie, metasprachliches Spiel, Maskerade hoch zwei. Weshalb es dann – wenn beim Modernen, wer das Spiel nicht verstand, es nur ablehnen konnte – beim Postmodernen auch möglich ist, das Spiel nicht zu verstehen und die Sache ernst zu nehmen. Das ist ja das Schöne (und die Gefahr) an der Ironie: Immer gibt es jemanden, der das ironisch Gesagte ernst nimmt. Ich denke, die Collagen von Braque, Juan Gris und Picasso waren »modern«: Deswegen wurden sie vom normalen Publikum abgelehnt. Dagegen waren die Collagen, die Max Ernst aus alten Stichen montierte, »postmodern«: Man konnte und kann sie auch wie
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