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Der Mythos des Sisyphos

Der Mythos des Sisyphos

Titel: Der Mythos des Sisyphos
Autoren: Albert Camus
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so sein. Das Interessante ist jedoch, wie dieser auf die Erde zurückgeführten Gottheit ein Sinn gegeben wird. Das erklärt wieder die Prämisse: , die noch reichlich dunkel bleibt. Zunächst ist wichtig festzustellen, daß der Mensch, der diese unsinnige Behauptung verkündet, durchaus ein Mensch von dieser Welt ist.

    Seiner Gesundheit wegen treibt er jeden Morgen Gymnastik. Ihn rührt die Freude Schatows, als der seine Frau wiederfindet. Auf einem Papier, das man nach seinem Tode findet, will er eine Figur zeichnen, die die Zunge zeigt. Er ist kindisch und zornig, leidenschaftlich, pedantisch und sensibel. Vom Übermenschen hat er nur die Logik und die fixe Idee, vom Menschen das ganze Register. Und dabei spricht er selbst ganz ruhig von seiner Göttlichkeit. Er ist nicht verrückt - es sei denn, DOSTOJEWSKIJ wäre es. Es treibt ihn also nicht eine Illusion des Größenwahnsinnigen. Das alles wörtlich zu nehmen, wäre diesmal lächerlich.
    Kirilow selbst verhilft uns zu besserem Verständnis. Auf eine Frage Stawrogins erklärt er, er spreche nicht von einem Gottmenschen. Man könnte denken, das geschähe aus Sorge, um sich von CHRISTUS zu unterscheiden. Tatsächlich aber geht es darum, diesen zu annektieren. Kirilow bildet sich tatsächlich einen Augenblick ein, JESUS sei im Tode . Er hat also erkannt, daß sein Leiden nutzlos gewesen ist. , sagt der Ingenieur, Einzig in diesem Sinne stellt JESUS wohl das ganze menschliche Drama dar. Er ist der vollkommene Mensch, da er die absurdeste Lage verwirklicht hat. Er ist nicht der Gottmensch, sondern der Menschen-Gott. Und wie er kann jeder von uns gekreuzigt und getäuscht werden - in gewisser Weise wird er es auch.
    Die Göttlichkeit, um die es hier geht, ist also ganz irdisch. , sagt Kirilow, Wir erkennen nun den Sinn der Kirilowschen Prämisse: Gott werden heißt nur: frei sein auf dieser Erde, keinem unsterblichen Wesen dienen. Das heißt wohlgemerkt vor allem: aus dieser schmerzlichen Unabhängigkeit alle Konsequenzen ziehen. Wenn Gott existiert, hängt alles von ihm ab, und wir vermögen nichts gegen seinen Willen. Wenn er nicht existiert, hängt alles von uns ab.Für Kirilow wie für NIETZSCHE heißt Gott töten: selber Gott werden - das heißt: schon auf Erden das ewige Leben verwirklichen, von dem das Evangelium spricht 30 .
    Wenn aber dieses metaphysische Verbrechen für die Vervollkommnung des Menschen genügt, warum ihm dann noch den Selbstmord hinzufügen? Warum sich töten und diese Welt verlassen, nachdem man die Freiheit erobert hat? Darin liegt ein Widerspruch.
    Kirilow weiß es genau, wenn er sagt: Aber die Menschen wissen es nicht. Sie fühlen nicht.Wie zu Prometheus' Zeiten nähren sie in sich die blinden Hoffnungen 31 . Man muß ihnen den Weg zeigen, sie können die Predigt nicht entbehren. Kirilow muß sich also aus Liebe zur Menschheit umbringen. Er muß seinen Brüdern einen erhabenen und schwierigen Weg zeigen, auf dem er der erste sein wird. Es ist ein pädagogischer Selbstmord. Kirilow opfert sich also. Aber wenn er gekreuzigt wird, wird er nicht getäuscht werden. Er bleibt Menschen-Gott, bleibt überzeugt von einem Tod ohne Zukunft, durchdrungen von der Melancholie des Evangeliums. Er sagt: Aber wenn er tot ist und die Menschen endlich erleuchtet sind, dann wird diese Erde sich mit Zaren bevölkern und von menschlichem Ruhm erstrahlen. Kirilows Pistolenschuß wird das Signal der letzten Revolution sein. So treibt ihn nicht die Verzweiflung in den Tod, sondern die Nächstenliebe zu sich selbst. Bevor er ein unsagbares geistiges Abenteuer blutig abschließt, weiß Kirilow ein Wort, das ebenso alt ist wie das Leiden der Menschen:
    Dieses Thema des Selbstmordes bei DOSTOJEWSKIJ ist also ein durchaus absurdes Thema. Merken wir uns nur, bevor wir weitergehen, daß Kirilow in anderen Gestalten, die ihrerseits neue absurde Themen aufnehmen, wiederaufersteht.
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