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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition)
Autoren: Adam Thirlwell
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Geschichten nicht der herkömmlichen Struktur von Erzählungen mit ihren Ereignisketten und ihrem moralischen Sinngehalt: ihrem sentimentalen Glauben an Länge, und somit an Tiefgründigkeit. Stattdessen geht es in diesen Geschichten um nichts als sie selbst.
    Ja, wenn man genug Talent hat, kann man etwas erfinden, das nur auf der wörtlichen Ebene wirkt. Kritiker sind dann nicht mehr notwendig. Es existiert nur Oberfläche: Sätze von absolutem Leichtsinn, die reinen Karikaturen.

Leben
    1
    Es erfordert nicht viel – sich die Realität in Worten zu denken. Obwohl, nein: Ich ziehe Wörter vor, die noch weniger schick sind, als »Realität«. Ich mag lieber Ausdrücke wie »das Wahre«. Und eigentlich ziehe ich sogar die Konzepte des »Lebendigen« und des »Toten« vor. Also: Es erfordert nicht viel – etwas wahrhaftig Lebensähnliches zu erfinden, etwas von großer Lebhaftigkeit. Es erfordert nur das kleinste Ausschweifen eines Satzes. Eine Erzählung kann winzig sein, und trotzdem eine ganze Welt erschaffen. Ich denke hier speziell an einen Schriftsteller, den ich sehr schätze: den guatemaltekischen Schriftsteller Augusto Monterroso, der Kurzgeschichten schrieb und nach einem Coup gegen die Árbenz-Regierung im Exil in Mexiko lebte. Im Exil schrieb Monterroso eine Geschichte namens
In Klammern
.
    Manchmal in der Nacht – überlegte bei der Gelegenheit der Floh –, wenn ich schlaflos liege und wach wie jetzt lese, unterbreche ich die Lektüre mit einer Klammer, denke an meine Arbeit als Schriftsteller und stelle mir, während ich lange an die Decke schaue, kurz vor, ich wäre oder könnte ab morgen, wenn ich es mir ernsthaft vornähme, sein wie Kafka (ohne dessen ständige Plackerei für ein halbwegs würdiges Auskommen) oder wie Cervantes (ohne die Drangsal der Armut) oder wie Catull (selbst entgegen oder vielleicht gerade wegen seiner Neigung, an den Frauen zu leiden) oder wie Swift (ohne den drohenden Wahnsinn) oder wie Goethe (ohne sein trauriges Schicksal, sich den Lebensunterhalt bei Hof zu verdienen) oder wie Bloy (trotz seines beharrlichen Drangs, sich für die Huren zu opfern) oder wie Thoreau (nichts zum Trotz) oder wie Sor Juana (allem zum Trotz); niemals Anonym; immer Lui Même, das Höchste vom Höchsten allen irdischen Ruhms. [22]
    Mit dieser Parenthese, die wiederum eine eigene Abfolge trauriger Parenthesen umschließt, lässt Monterroso einen großen Ehrgeiz entstehen, und gleichzeitig eine ganze Geschichte über die Grenzen dieses Ehrgeizes. Er erschafft ein vollständiges Leben.
    2
    Aber dies ist nicht die einzige Möglichkeit, etwas Riesiges durch etwas Winziges zu erzeugen. Monterrosos Parenthese, seine Untersuchung der kleinen Aufregungen und Schnörkel, die in ganz normale Sätze eingebaut sind, hat eine ganz eigene polygenetische Abstammung.
    Kurz nachdem Vladimir Nabokov in Amerika angekommen war, um sich vor der todbringenden Herrschaft der Nazis und Kommunisten in Europa zu retten, schrieb er ein Buch über den russischen Prosaschriftsteller Nikolai Gogol. In diesem Buch beschrieb er eine der Methoden, mit deren Hilfe Gogol in seinem Roman
Die toten Seelen
die Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Toten neu absteckt – durch Gogols Technik, Randfiguren zu schaffen, die »aus den Nebensätzen seiner zahlreichen Metaphern, Vergleiche und lyrischen Ausbrüche auf[tauchen]. Wir werden Zeuge des bemerkenswerten Vorgangs, daß reine Redefiguren Lebewesen erzeugen.« Nabokov gibt dem Leser ein Beispiel:
    Selbst das Wetter hatte sich entgegenkommend der Szenerie angepaßt: Der Tag war weder heiter noch trübe, sondern von jener blaugrauen Farbe, wie man sie an den Uniformen von Garnisonssoldaten findet, die im übrigen recht friedfertige Kriegshelden sind, wenn man von ihrem beschwipsten Zustand an Sonntagen absieht.
    Der Trick, schreibt Nabokov,
    besteht darin, daß er das Wort »
wprotschem
« (»im Übrigen«, »sonst«, »
d’ailleurs
«) benutzt, das allenfalls eine grammatische Klammer ist, aber hier logisches Bindeglied zu sein vorgibt, und lediglich die Vokabel »Soldaten« liefert einen schwachen Vorwand für die Juxtaposition von »friedfertig«; kaum aber hat die Phantombrücke »
wprotschem
« ihr Zauberwerk getan, da torkeln unsere sanftmütigen Kriegsmannen auch schon über sie hinweg und grölen sich in jene Randexistenz hinein, die uns inzwischen bekannt ist. [23]
    Sie geschieht so schnell, diese Erweiterung von Gogols Simile: Aber in diesem kurzen Moment spielt sich
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