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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition)
Autoren: Adam Thirlwell
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Nase eines Mannes in Sankt Petersburg ein Eigenleben entwickelt; diese Geschichte, in der das Unmögliche wahr wird. Es überrascht auch nicht, dass für Steinberg der Schriftsteller der Inbegriff des Künstlers war. Denn seine Kunst der buchstäblichen Zeichen machte Steinberg gewissermaßen zu einem Schriftsteller, der eben einfach keinen Roman geschrieben hat. Dafür erfand er neue ökonomische Techniken, um die Realität zu beschreiben.
    Und wie von jedem Schriftsteller – wie groß er auch sein mag – war seine Kunst eine Kunst der Abkürzungen: des Redigierens und Kürzens.
    Gegen Ende seines Lebens, um 1989 , arbeitete Steinberg an Fotografien europäischer Städte: Bukarest, Brest, Buzău, Moskau, Heidelberg, Lille, Avignon. Aber natürlich handelte es sich nicht um normale Fotografien. Erstens waren es Reproduktionen alter Postkarten; und außerdem hatte er sie stark vergrößert. In der New Yorker Illustrierten
Grand Street
stellte Steinberg ein Portfolio dieser vergrößerten Postkarten zusammen: eine Abfolge von Details, in ihrer neuen, vergrößerten Form, mit dem Titel » DOGS «. Denn in jedem der Riesenbilder, jeder Straßenszene, hatte Steinberg ein wiederkehrendes, zufälliges Detail entdeckt, Hunde. Sie waren alle zufällig ins Bild geraten. Sie waren Hintergrund. Doch plötzlich waren sie alles. Ich liebe diese Hunde sehr – denn dieses internationale Hundeprojekt war Steinbergs großes Projekt der Detailkunst –, seine Hommage an die Wahrheit der zurechtgestutzten und künstlichen Bilder.
    5
    Die Wahrheit der Karikatur zieht aber auch gewisse Konsequenzen nach sich: beispielsweise die Unmöglichkeit, zu beschreiben, wie diese Zeichen funktionieren – diese wunderbaren Zeichen, die wir Karikaturen nennen oder auch Sätze … Denn wenn künstlerisches Talent darin bestünde, Miniaturzeichen zu schaffen, die uns wie Wahrheiten vorkommen, dann lässt sich nur schwerlich erkennen, was noch für die Interpretation zu tun bliebe. Es bleibt kein Freiraum, in dem sich Wortbedeutungen ausbreiten könnten. Denn Bedeutung leidet an Fettleibigkeit.
    Dies war das ungezügelte Ideal der Moderne, wie Gustave Flaubert es nannte – der bekanntlich an seine Geliebte, Louise Colet, schrieb, »was ich machen möchte, das ist ein Buch über nichts, ein Buch, das an nichts Äußerem hängt, das sich durch die innere Kraft seines Stils von selbst hält, so wie sich die Erde, ohne gestützt zu werden, in der Luft hält, ein Buch, das fast kein Thema hätte, oder in dem das Thema beinahe unsichtbar wäre, wenn das möglich ist«. [20] Diese Aussage ist Flauberts Lesern manchmal undurchsichtig vorgekommen. Aber vielleicht ist sie letztendlich gar nicht so seltsam. Flaubert versuchte nur, ein ihm vollkommen erscheinendes Kunstobjekt zu beschreiben: ein Werk, das ganz ohne Botschaft auskäme, das reine Oberfläche wäre.
    Und die logischen Schlussfolgerungen dieser Vision von moderner Strenge sind in der Tat sehr seltsam. Beispielsweise würden sowohl die Literaturkritik als auch die Belletristik zu Übungen größter Plattheit werden –, wie das Doppelwerk des Pariser Kritikers und Anarchisten Félix Fénéon. Fénéon schrieb zwei bedeutende Bücher: zwei Zwillinge. Das erste hieß
Les Impressionistes en 1886
. [8] Es war eine Beschreibung der neuen Kunstform von Seurat und seinen Freunden, der unbändigen anarchistischen Oberflächen ihrer pointillistischen Tupfenbilder. Und im Einklang mit ihrer auf gelassene Weise reduktiven Malerei erfand Fénéon seinen eigenen körnigen Stil: die schnellste Kurzschrift der Welt mit einer minimalen Anzahl an Verben, verdrehtem Satzbau, und allem, was sonst gerade noch so passte: eine Sprachanarchie voller trockenem Humor. Drei Jahre später veröffentlichte er ein weiteres Buch namens
Nouvelles en trois lignes
. Bei diesen
Nouvelles
handelte es sich um dreizeilige Erzählungen, die regelmäßig in der im Oktober 1905 gegründeten Zeitung
Le Matin
erschienen. Im Mai 1906 wurde Fénéon ihr Sonderberichterstatter. Aber anstatt diesen Trend der Reportage im telegrafischen Stil weiter zu verfolgen, dachte er sich seine Geschichten einfach selbst aus. Seine
Nouvelles
waren nicht mehr länger Nachrichten; jetzt waren sie Romane. Sie waren auf der Oberfläche der Dinge angesiedelte Übungen.
    Aus Verzweiflung über den Bankrott eines Schuldners hat sich M. Arturo Ferreti, Geschäftsmann in Biserta, mit seinem Jagdgewehr erschossen. [21]
    Kurz wie sie sind, folgen diese
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