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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition)
Autoren: Adam Thirlwell
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ihm wo (am Ausschnitt) und warum. [11]
    Die nächste Geschichte aber zeigt, warum es sich hier eindeutig nicht um eine Kurzgeschichtensammlung handelt, überhaupt nicht. Ihr Titel ist »Verdoppelung«.
    Gegen Mitte des Tages und am Mittag befand ich mich und stieg ich auf die Plattform und die hintere Terrasse eines überfüllten und fast besetzten Autobusses und Gemeinschaftstransportfahrzeuges der Linie S und der von der Contrescarpe nach Champerret fährt. [12]
    Und so weiter, lieber verdoppelter Leser …
    So etwas Verrücktes! Queneaus Buch wiederholt die gleiche Geschichte 99  Mal; jedes Mal in einem anderen Stil, einem anderen Modus. Die Veränderungen sind rhetorischer Art (»Litotes«), generischer (»Klappentext«), grammatikalischer (»Passiv«) oder metrischer (»Alexandriner«), oder einfach ein Stimmungswechsel (»Nobel«, »Ungeschickt«). Es ist ein Buch sprachlicher Effekte.
    3
    Und hier ist der Grund, warum Queneau mein Held ist: Während es so scheinen mag, als führe er mit seinen Übungen die Willkür der Zeichen vor, aus denen Sprache besteht – ihre Beweglichkeit –, denke ich, dass er mit diesem Experiment in Wirklichkeit noch etwas anderes zeigt: Dass die gleiche Geschichte eine jeweils andere Geschichte sein kann, je nachdem, aus welchen Wörtern sie zusammengesetzt ist. Selbst die kleinste Änderung führt zu einer neuen Projektion der Realität.

Karikaturen
    1
    Vielleicht lässt sich dies auf noch ulkigere Weise zeigen. Ein Satz ist wie eine Skizze oder eine Karikatur.
    2
    Nachdem sein Roman der veräußerlichten Form,
Tristram Shandy
, dessen erste Bände 1759 erschienen waren, zu einem Riesenerfolg geworden war, bat der englische Schriftsteller Laurence Sterne den Künstler William Hogarth, zwei Frontispize anzufertigen, die jeweils eine Szene aus dem Roman darstellen sollten. Teils äußerte Sterne diesen Wunsch wohl, weil Hogarth eine Berühmtheit war. Sterne hatte eine Schwäche für Berühmtheiten. Aber es gab auch einen weniger offensichtlichen Grund: Hogarth und Sterne teilten dieselbe avantgardistische Ästhetik. Beide glaubten daran, dass Kunst Tempo haben sollte, dass die Welt schnell und zielgerichtet durch Zeichen verbessert werden konnte. Denn obwohl Hogarth seine Gemälde und Kupferstiche mit urbanen Details vollpackte, war er gleichzeitig berühmt für seine Ökonomie: Ja, er war berühmt für seine Karikaturen. Mit drei Strichen konnte er das gleiche Ergebnis erzielen wie mit dreihundert. Und so schrieb Sterne:
    Denkt Euch die kurze, plumpe, ungehobelte Gestalt eines Dr. 
Slop
, von ungefähr viereinhalb Fuß perpendikularer Höhe, mit einem breiten Kreuz und einem sesquipedalischen Bauch, der einem Sergeanten beim Garde-Kavallerie-Regiment alle Ehre gemacht hätte.
    Dies waren die Umrisse von
Dr. Slop’s
Gestalt, die sich, wie Euch bekannt sein muß – falls Ihr
Hogarth’s
Analyse der Schönheit gelesen habt, und wo nicht, so wünscht’ ich Ihr tätet’s –; eben so gewiß durch drei Striche karikieren und der Vorstellung vermitteln läßt, als durch dreihundert. [13]
    Wie auch Hogarth fand Sterne die Vorstellung langweilig, dass eine Darstellung den Eindruck geben solle, ihren Gegenstand erschöpfend zu beschreiben. Ihn interessierten jene Wahrheiten, die man nur über Abkürzungen erreichen kann. Eine weitere Hommage an Hogarth findet sich in diesem Vergleich Dr. Slops mit einem »Sergeanten«. Nach Aussage eines zeitgenössischen Biographen war Hogarth von der Tatsache fasziniert, dass sich eine Person mit viel weniger Zeichen darstellen lässt, als man zuerst denken mochte. Er ging so weit zu behaupten, man könne einen Sergeanten mit einer Pike, der mit seinem Hund in ein Bierhaus geht, einfach mit drei geraden Strichen zeichnen:

    A. The perspective line of the door.
    B. The end of the Serjeant’s pike, who is gone in.
    C. The end of the Dog’s tail, who is following him.
    There are similar whims of the
Caracci
.
    Diese Zeichnung ist eine Provokation, eine Revolution in der Kunst der Zeichen. Die Kunst der Karikatur ist nicht leicht von der Kunst der Charaktere zu unterscheiden. Das ist es, was Hogarth beweisen wollte und was auch Sterne verstand. Die Kunst der Darstellung ist viel paradoxer, als die Menschen generell zu denken scheinen. Sie war sowohl offen für dichte Detailanordnungen als auch für bloße Skizzen. [5] Die ästhetische Grundannahme von Sternes Roman war die, dass eine klare Anerkennung der Künstlichkeit eines Zeichens dieses
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