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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition)
Autoren: Adam Thirlwell
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keineswegs daran hindert, Momente der Wahrheit zu schaffen. Um dies zu beweisen, konnte man, wenn man wollte, einen Satz sogar mit eigenen Karikaturen unterbrechen. So wie im Fall von Tristrams Versuch Corporal Trims Versuch, das Junggesellenleben zu beschreiben:
    »Solang’ ein Mann frei ist – rief der Korporal und schwung seinen Stock also –

    Ein ganzes Tausend der allerscharfsinnigsten Syllogismen meines Vaters hätten nicht beredter für die Ehelosigkeit sprechen können.« [14]
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    Es gibt keine natürlichen Zeichen – eine Karikatur ist nicht wirklicher als ein Satz: Aber gleichzeitig muss etwas nicht unwahr sein, nur weil es ein Zeichen ist. So lässt sich die modernistische Weisheit von Laurence Sterne zusammenfassen, die er zweihundert Jahre zu früh erkannte. Ich meine – dem kommt erst wieder Picasso nahe.
    Im Gespräch mit dem Fotografen Brassaï sagte Picasso einst unbedarft, er strebe immer danach »Ähnlichkeiten darzustellen. Ein Maler muss die Natur beobachten, darf sie aber nie mit der Malerei verwechseln. Nur durch Zeichen kann Natur in Malerei übersetzt werden.« [15] So ist beispielsweise in der 1912 – 1913 von Picasso geschaffenen Collage
Flasche und Glas
die Flasche mit Kohle umrissen. Und diese Flasche ist halb voll. Wir wissen, dass sie halb voll ist, weil ein spitz zulaufendes Stück Zeitungspapier, ausgeschnitten und in den Umriss der Flasche geklebt, die Form der Flasche zur Hälfte ausfüllt. Ein Maler muss die Natur beobachten, darf sie aber nie mit der Malerei verwechseln: Sie kann nur mit Hilfe von Zeichen in Malerei übersetzt werden. Die Zeitung sieht nicht aus wie Wein, aber wir deuten sie als Wein. »Man erfindet ein Zeichen nicht«, fuhr Picasso fort, in seinem Gespräch mit Brassaï. »Man muss genau auf die Ähnlichkeit zielen, um zu dem Zeichen zu kommen.« [16] Gegenüber seiner Frau, Françoise Gilot, formulierte Picasso noch präziser: »Das
papier collé
war in Wirklichkeit die große Entdeckung«, sagte er. »Das Zeitungsblatt wurde niemals benutzt, um eine Zeitung daraus zu machen, sondern um zu einer Flasche oder etwas Ähnlichem zu werden. Es wurde niemals buchstäblich, sondern immer als ein Element benutzt, das von seiner gewöhnlichen Bedeutung in eine andere Bedeutung verwiesen wurde.« [17] Wie eine Metapher hatte das Stück Zeitungspapier, mit seinen gedruckten Wörtern, in Picassos Collage mehrere Funktionen. Es war da, um zu zeigen, wie viel das Auge ignorieren und vereinfachen kann, auf der Suche nach Ähnlichkeit zur Realität. Es war ein Scherz, der die nicht reduzierbare Künstlichkeit des Bildes bestätigte – und, gleichzeitig, auch seine realistische Präzision.
    Auf gleiche Weise waren Sternes Bilder und Diagramme für ihn eine Möglichkeit zu bestätigen, dass alles letztendlich nur ein Zeichen ist, denn ein Roman ist nicht realer als ein Bild – aber beide sind gleichzeitig wahr. Ähnlich verfuhr ein anderer akrobatischer Künstler, Saul Steinberg, der einst seine »bauhausige Philosophie der Verwandelung von Geschriebenem in Gemaltes …«, seinen Gebrauch der Linie »als eine Form des Schreibens« beschrieben hatte. [18]
    Das ist, denke ich, kein Widerspruch.
    4
    Vielleicht sollte ich länger bei Saul Steinberg verweilen, im Zusammenhang dieses Kapitels über Wörter als Karikaturen. [6] Denn Steinbergs eigenem Begriff von seinem Künstlertum zufolge, war er Schriftsteller: »Mein Bild vom Künstler, Dichter, Maler, Komponisten etc. ist
der Schriftsteller
.« [19] Es mag einem seltsam vorkommen, dass ein Künstler die Schriftsteller so verehrt. Aber Steinbergs Kunst ist ein Triumph des Intellektuellen: Sie ist gekennzeichnet durch eine Inversion, die sich dadurch ergibt, dass Spuren auf flachem Papier als real angesehen werden, aber Menschen und Objekte als unwirklich: Wirklich ist nur Handschrift, ist Kalligraphie. Und deshalb können in seiner Zeichnung »Erotica I« die Zahl  5 und ein Fragezeichen Sex haben, pornographisch ineinander verschlungen, auf einem Bett. Oder in seinem »Graph Paper Architecture«, wo er aus Millimeterpapier das realistische Porträt eines Wolkenkratzers machte, mit seinen präzisen endlosen Fenstern, indem er eine Markise über dessen Tür auf den Gehweg zeichnete. [7] Steinbergs Kunst ist metaphorisch: In ihr ist jede Linie kurz davor, wirklich zu werden. Und so überrascht es vielleicht nicht, dass eines seiner Lieblingswerke Nikolai Gogols Erzählung »Die Nase« war. Diese Geschichte, in der die
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