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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition)
Autoren: Adam Thirlwell
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Konzepten ist in Barthes’ Spätwerk weitläufig verzweigt. Vor allem aber dreht es sich immer wieder um das Konzept der Zeit: um das Trauern und das Erinnern.
    Ich habe das wirklich ernst gemeint, als ich sagte, dass ich die Begriffe Leben und Tod vorziehe.
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    Denn das
punctum
funktioniert letztendlich genauso wie Prousts
madeleine
: Es ist ein zufälliges Detail mit einem unendlichen Potential für kreative Ausweitungen. Genauso schloss Barthes auch in
Die helle Kammer
, beim Betrachten einer Fotografie seiner Mutter, dass die Tiefenstruktur dieser Art von Detail die Zeit sei. Die Essenz dieser Form ist Zufälligkeit, ist Rarität. Damit erinnert sie an Barthes’ Behauptung aus seinem Kurs über die Vorbereitung des Romans, »Augenblicke der Wahrheit« müssten wahllos in einem Roman verstreut sein. An gleicher Stelle hatte er eine obskure Definition dieser Augenblicke der Wahrheit geliefert: »Augenblick der Wahrheit = wenn die Sache vom Affekt berührt wird; nicht Nachahmung (Realismus), sondern affektive Verschmelzung.« [38] Dieselbe Idee erklärt Barthes auf viel einleuchtendere Weise in
Die helle Kammer
, wo er den Effekt von Fotografien beschreibt:
    Die Realisten, zu denen ich gehöre … betrachten eine Fotografie keineswegs als eine »Kopie« des Wirklichen – sondern als eine Emanation des
vergangenen Wirklichen
: als
Magie
und nicht als Kunst. Die Frage, ob die Fotografie analogisch oder codiert sei, hilft uns bei der Analyse nicht weiter. Wichtig ist, daß das fotografische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und daß die Zeugenschaft der Fotografie sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. [39]
    Und hier, denke ich, bietet uns Barthes eine mögliche Form des zukünftigen avantgardistischen Romans an: das Zeichen als Beweismaterial.
    Ein paar Jahre zuvor hatte er in einem kurzen Aufsatz argumentiert, Fotografie und Literatur stünden vor dem gleichen Dilemma: dem, einen »Signifikanten« zu produzieren, »der sowohl der ›Kunst‹ (als einer kodierten Kulturform) als auch der illusorischen ›Natur‹ des Referenten fremd sei«. [40] Weder fälschlich verschlüsselt zu sein, noch fälschlich natürlich: Dies sei die paradoxe Basis, auf der wirkliche Romankunst stehen müsse. Die gebräuchlichen Kategorien von
zeigen
und
berichten
, oder
Essay
und
Fiktion
, seien inadäquat. Nein, die wahre Gegensätzlichkeit bestehe zwischen einem Realitätseffekt, der nur für eine allgemeine Kategorie des Realen steht, und einem Realitätseffekt, von dem immer dann die Rede sein kann, wenn ein Objekt seine Zeichen ausschließt und Kunst zu einer Art Zauberei wird.
    Im Fall der Wörter geschieht dies durch die kunstvolle Abstimmung der Elemente eines Textes: durch die Schöpfung nicht nur von Sätzen und Details, sondern einer Abfolge von Sätzen: durch die Taktung von Wahrheiten.
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    Vielleicht beschrieb Barthes aber auch nur etwas, das man im achtzehnten Jahrhundert schon gewusst hatte. Vielleicht war Barthes nur ein Multiple von Denis Diderot, der 1773 eine Erzählung namens »Dies ist keine Erzählung« veröffentlicht hatte. Vor Magrittes Pfeife, die keine Pfeife ist, sondern ein Gemälde, gab es längst Diderots Erzählung, die keine Erzählung ist, sondern die Wahrheit. Und dies ist teils so, weil sie buchstäblich keine Erzählung ist; sie ist Fakt. (Der Text wurde zuerst in der Zeitschrift
Correspondance littéraire
veröffentlicht, die unter Freunden zirkulierte.) Ihr erster Herausgeber, Jacques-André Naigeon, sagte 1798 , dass Diderots Erzählung »buchstäblich wahr« sei. Denn selbst die Straßennamen stimmen: Madame Reymer und Tanié hatten eine Wohnung in der Rue Sainte-Marguerite, Gardeil wohnte in der Rue Saint-Hyacinthe und Mademoiselle de la Chaux an der Place Saint-Michel. Diderot selbst, der ebenfalls eine Figur in der Geschichte ist, wohnte in der Rue de l’Estrapade. Aber es gibt verschiedene Arten von Wahrheit. So haben zwei der Hauptfiguren der Geschichte in keinen anderweitigen Aufzeichnungen eine Spur hinterlassen. Andererseits sind einige der Nebenfiguren eindeutig real. Mit anderen Worten: Diese Erzählung ist nicht wirklich buchstäblich wahr, sie ist ein Spiel mit der Fiktion und der Wahrheit. Sie ist auf andere Art wahr.
    In der Erzählung, die keine Erzählung ist, gibt es einen Moment, in dem Mademoiselle de la Chaux ihren Geliebten Gardeil traurig bittet, ihr zu sagen, wieso er sie nicht mehr liebe. Er antwortet ihr schonungslos und ehrlich: »Ich weiß es
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