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Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Titel: Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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heißes, zitterndes Fieber. Er hat die Fäuste in den Taschen geballt, während er durch die Dunkelheit stapft, aber er erregt keine Aufmerksamkeit. Niemand dreht sich um und schaut hinter ihm her, er ist ein ganz normaler Mann mittleren Alters, mit schütteren Haaren, und er denkt, fast schon verwundert: Man sieht es mir nicht an. Das, was ich bald tun werde. Die Menschen wissen ja so wenig. Hier gehe ich mitten unter ihnen, und siehe da, sie gehen durch die Straßen und denken an ihre eigenen Angelegenheiten.
    Die Gesichter, die ihm entgegenkommen, sind ausdruckslos. Es ist kein Glück zu sehen, keine Freude über den Tag und das Leben oder über die rieselnden Schneeflocken. Dieses Leben, das sie nur für kurze Zeit besitzen und das sie für selbstverständlich nehmen, gleitet langsam vorbei, während sie von einem anderen Leben an einem anderen Ort träumen. Von Liebe, Fürsorge, von allem, was Menschen brauchen. Er geht und geht, am liebsten würde er umkehren, aber er weiß, daß es zu spät ist, er ist schon zu weit gegangen. Kann fast nicht fassen, daß er an diesen Punkt gelangt ist, verdrängt es aber und läßt sich weiter vorantreiben, läßt sich treiben von Furcht und Notwendigkeit. Er starrt in diesen Abgrund, der sich vor ihm auftut, und der ist bodenlos. Der Sturz jagt ihm Todesangst ein, der Sturz ist verlockend. Er krümmt die Finger in der Tasche, er hat solche Angst vor ihnen, er denkt an eine Heckenschere, die die dünne Haut durchtrennt, an das Blut, das wütend aus den Stümpfen schießt. Ihm wird schlecht. Er kann dieses Bild nicht verdrängen. Er muß einen anderen Ort aufsuchen, auch wenn dieser Ort Entsetzen heißt. Er trägt eine große Schande, er hat ein erbärmliches Leben, jetzt kann er nicht mehr, jetzt muß er handeln. Ab und zu schaut er verstohlen zu den nichtsahnenden Menschen hoch. Sie sehen dieses gewaltige Grauen nicht, das langsam in ihm wächst. Wächst es schon, überlegt er, bin ich jetzt schon dabei, geschieht dies wirklich? Ist die Stadt nicht eine Kulisse, ist das hier nicht ein Film? Die Mietshäuser könnten aus Pappmaché sein, und alle anderen wären dann Statisten. Nein, das hier ist wirklich, er ballt die Fäuste, spürt, wie seine Muskeln sich anspannen. Er ist jetzt soweit, er nimmt Anlauf, er läuft weiter wie auf Schienen.
    Seine Unterlippe ist aufgeplatzt, er weiß nicht, wann das passiert ist, er spürt den süßlichen Geschmack von Blut auf der Zunge, der Geschmack gefällt ihm. Später, wenn alles vorüber ist, werden die Menschen entsetzt sein, sie werden die Hände vors Gesicht schlagen und ihn verurteilen. Auch, wenn er alles erklären kann. Er weiß, daß er alles erklären kann, Schritt für Schritt, den mühseligen Weg, den tiefen Abgrund vor ihm, wenn er nur Zeit dafür bekommt. Wenn sie nur seiner Geschichte zuhören wollen. Aber die Leute haben keine Zeit, sie haben ihre eigenen traurigen Geschichten, ach, er hat so schwer zu tragen, er ist so allein! So denkt er, während er durch die Straße geht, die Hände tief in den Taschen, das Gesicht dem matschigen Boden zugewandt.
    Er ist mittelgroß und kräftig gebaut, er trägt einen grünen Parka. Der Parka hat eine Kapuze, die sich jetzt gerade mit Schnee füllt. Sein Gesicht ist breit, die Augen sitzen dicht beieinander und sind grau, kein schöner Mann, aber auch nicht sonderlich unansehnlich. Hohe Stirn, breite Wangenknochen und ein kräftiges bärtiges Kinn. An den Füßen trägt er kurze Stiefel, das Leder ist abgenutzt und zieht Wasser, seine Zehen sind schon taub. Er bemerkt das kaum, er hat soviel, woran er denken muß. Nein, er wagt jetzt nicht, zu denken, er leert sein Gehirn, ist nur ein fest entschlossener Organismus, der nicht zurückblickt. Er muß sein Ziel erreichen und darf die Angst nicht an sich heranlassen. Die hüllt ihn ein wie ein farbloses Gas, er wagt fast nicht, Luft zu holen. Er kommt an einem Spiegelladen vorbei, entdeckt plötzlich sein eigenes Gesicht und schlägt entsetzt die Augen nieder. Sein Gesicht ist so nackt, seine Augen werden vom Schatten verdeckt. Er wendet sich ab, er geht und geht, seine Gestalt ist kräftig und kompakt, die Schultern sind rund und breit, und er hat einen wiegenden, zielbewußten Gang. Wenn seine Stiefel auf den Boden auftreffen, spritzt der Schneematsch nach allen Seiten, ein feuchtes, gurgelndes Geräusch. Nichts kann ihn aufhalten. Trotzdem denkt er, wenn mir jetzt jemand begegnete, ein alter Freund zum Beispiel, dann würden wir
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