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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Autoren: Rick Yancey
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retten, Will Henry. Weil ich es kann. Das ist die Antwort auf Johns Frage.«
    Da verstand ich es. Ich wich auf unsicheren Beinen zurück. Das Zimmer begann sich um mich herum zu drehen.
    »Sie schicken mich fort!«, sagte ich.
    »Du wärst fast gestorben«, rief er mir ins Gedächtnis. »Dreimal nach meiner Zählung. Wenn du bei mir bleibst, wird dich das Glück eines Tages verlassen, genau wie es bei deinem Vater war. Ich kann nicht zulassen, dass das passiert.«
    »Nein!«, schrie ich. Meine Stimme zitterte vor Wut. »Das ist nicht der Grund, weshalb Sie es machen. Sie schicken mich fort, weil ich ihn getötet habe!«
    »Schrei mich nicht an, Will Henry!«, ermahnte er mich mit ruhiger Stimme.
    »Sie sind wütend, und Sie wollen mich dafür bestrafen! Dafür, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe! Ich habe Ihnen das Leben gerettet!« Ich konnte meine Wut kaum im Zaum halten.»Sie hatte recht, was Sie betraf – sie hatten beide recht! Sie sind ein schrecklicher Mensch. Sie sind nichts als ein … Sie sind voll mit nichts außer sich selbst, und Sie wissen gar nichts! Sie wissen gar nichts über … über gar nichts !«
    »Eins weiß ich«, brüllte er mich zurück an, denn er konnte seinen Zorn nicht länger zügeln. »Sie wäre jetzt am Leben, wenn ich nicht gewesen wäre. Die Gabe hätte eigentlich ich geben sollen, und ich habe sie vorenthalten – ich habe sie vorenthalten!« Sein Gesicht war verzerrt vor Selbstabscheu. Er schlug sich auf die Brust wie ein Bußfertiger vor dem Opferaltar. »Ich habe ihr erlaubt, nach Hause zu gehen – obwohl ich wusste, ich wusste , dass sie in Gefahr war. Ich habe mich abgewandt, so wie du dich abgewandt hast, Will Henry, und was ist passiert? Sag mir, was passiert, wenn wir uns abwenden!«
    Er fiel zurück aufs Sofa, den Ort, auf dem er, für den kürzesten Moment, die Liebe gekostet hatte, die er sich vor Jahren selbst durch jenen Sturz in die Donau verwehrt hatte.
    »Ach, Will Henry!«, rief er. »Sind wir nicht ein jämmerliches Paar? Wie sagte Fiddler? ›Was er liebt, kennt ihn nicht, und was er kennt, kann nicht lieben.‹ Er hat über dich gesprochen, aber er hätte ebenso gut über uns beide sprechen können.« Er blickte zu mir auf. Er wirkte so verloren, so hoffnungslos beraubt, dass ich unwillkürlich auf ihn zuging.
    »Schicken Sie mich nicht fort, Sir. Bitte!«
    Er hob die Hand. Er ließ sie fallen. »Das Leben ist«, murmelte er. »John hat diese Leerstelle ausgefüllt, nicht wahr? John hat seine Antwort gegeben – aber ist es die Antwort, Will Henry? Meister Abram behauptet, dass wir mehr sind als das, was sich im Gelben Auge widerspiegelt, aber sind wir das? Ich habe ihn den ganzen Weg getragen – wir sind fast gestorben, du und ich, um ihn aus der Wildnis zu bringen –, damit er die einzige Frau töten konnte, die ich je geliebt habe.«
    Ich setzte mich neben ihn. »Das ist nicht der Grund, weshalb Sie ihn herausgebracht haben.«
    Mit einem schwachen Winken seiner Hand tat er meinenTrostversuch ab. »Und das Baby ist gestorben. Das ist nicht der Grund, weshalb du dich abgewandt hast. Meine Frage bleibt, Will Henry. Ist Johns Antwort die Antwort?«
    Ich schüttelte den Kopf. Ich glaube nicht, er erwartete von mir, ein Rätsel zu entschlüsseln, das die Menschheit von Kindesbeinen an geplagt hatte. Bis heute bin ich mir nicht sicher, was er von mir erwartete.
    Oder was ich von ihm erwartete. Wir waren in der Tat ein jämmerliches Paar, der Monstrumologe und ich, miteinander verbunden auf eine Art und Weise, die uns beiden unerklärlich war. Im Monstrumarium hatte die Bestie mich gezwungen, mich umzudrehen und »das wahre Gesicht« der Liebe zu erblicken. Aber Liebe hat mehr als ein Gesicht, und das Gelbe Auge ist nicht das einzige Auge. Es kann keine Einsamkeit ohne Überfluss geben. Und die Stimme der Bestie ist nicht die einzige Stimme, die auf dem hohen Wind reitet. Sie war da in jedem matten Schritt, den der Doktor in der Wildnis machte. Sie war da in der Nacht, als er mich in die Arme nahm, um mich vorm Erfrierungstod zu bewahren. Sie war da in Muriels Augen in der Nacht, als ihre Schatten sich begegneten und eins wurden. Sie ist immer da, wie der Hunger, der nicht gestillt werden kann, doch ist das kleinste Schlückchen sättigender als das üppigste Festmahl.
    Ich griff durch den Raum, der uns trennte – nicht weiter als ein Fuß und breiter als das Universum – und nahm die Hand des Monstrumologen in meine.

EPILOG
    November 2009

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